Jimi Hendrix. Charles R Cross. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles R Cross
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783854454403
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Science-Fiction und den Weltraum interessiert, aber zu diesen kindlichen Vorlieben kam nun noch eine neu gewonnene Faszination für Engel hinzu. „Mama wurde für ihn zu einem Engel“, sagt Leon. „Er hat mir gesagt, er sei sicher, sie sei ein Engel und würde uns überallhin folgen.“

      * * *

      An einem Abend in jenem Frühjahr hörte Delores Hall ein Geräusch auf ihrer Veranda. Sie schnappte sich eine Taschenlampe und ging nachsehen. Als sie den Lichtkegel über die Veranda gleiten ließ, leuchtete sie in Jimis rundes Gesicht. Er saß auf einem Stuhl in der Ecke. „Was machst du denn hier so spät in der Nacht, Buster?“, fragte sie. „Gar nichts, Tante“, antwortete er.

      „Er war wie weggetreten“, erinnert sich Delores Hall Jahre später. „An jenem Abend war er so sehr in sich selbst zurückgezogen. So hatte ich ihn noch nie erlebt.“

      Delores versuchte, ihn aufzumuntern. „Wieso kommst du nicht rein?“, redete sie ihm zu. „Ich mach dir was zu essen.“

      „Ach, ich she mir nur die Sterne an“, sagte er. „Ich komme später.“

      „Denkst du an deine Mom?“, fragte sie.

      „Woher weißt du das?“, erwiderte er. „Eines Tages werde ich sie wieder­sehen, ganz bestimmt.“

      „Ich weiß“, antwortete Delores. „Wir alle werden sie wiedersehen.“

      Jimi schien weicher zu werden, als sei die ungeheure Gefühlsintensität nur eine gewisse Zeit lang auszuhalten. Und als der Zauber verflog, klang er wieder wie ein Junge, der zu viele Science-fiction-Comics gelesen und zu viele Flash Gordon-Filme im Atlas Theater gesehen hatte. „Eines Tages schieß ich mich mit einer Astralrakete in den Himmel“, prahlte er. „Ich fliege zu den Sternen und zum Mond. Ich fliege da hinauf, und dann sehe ich, was da ist. Ich will hoch in den Himmel“, sagte er und sah seine Tante an, „und von Stern zu Stern fliegen.“

      Kapitel sechs

      Tall Cool One

      Seattle, Washington

      März 1958 bis Oktober 1960

      „Er spielte ‚Tall Cool One‘ so geschmeidig, man hätte meinen können, er sei bei den Fabulous Wailers.“

      — Carmen Goudy

      Im Frühjahr 1958 zogen Jimi und Al aus der Pension aus und mit Cornell und Ernestine Benson in eine Zweizimmerwohnung in Beacon Hill. Leon war wieder zu Pflegeeltern geschickt worden, aber trotzdem lebten sie – Al, Jimi, Cornell und Ernestine – immerhin noch zu viert in der beengten Wohnung. Dennoch empfand Jimi den Umzug als Erleichterung. Obwohl ihn Beacon Hill vom Central District und seinen Freunden entfernte, war er nun doch den Hardings näher. Auch wohnte er wieder mit Ernestine zusammen, die ihn bekochte und bemutterte. Und natürlich hatte er nun auch wieder Zugriff auf ihre ungeheuer wichtige Sammlung von Bluesplatten. Gelegentlich nahm ihn Ernestine sogar mit zu Bob Summerrises World of Music und ließ ihn eine Platte aussuchen. Summerrises legendärer Laden verfügte über ein breites Angebot an Schallplatten von Blues- und R&B-Künstlern, darunter auch einige populäre weiße Musiker, die allerdings in einer Umkehrung der andernorts rassistischen Gepflogenheiten unter dem Tresen gehandelt wurden. Summerrise war Moderator einer Radiosendung, in der er die angesagteste schwarze Musik spielte, und Jimi war sein begeisterter Zuhörer.

      Jimi wurde im Herbst sechzehn Jahre alt, und allmählich verfügte er über einen eigenen ausgeprägten Musikgeschmack. Wenn er nun Pernell Alexander zu Hause besuchte, legten sie Platten von Elmore James auf und versuchten, auf ihren Gitarren mitzuspielen. Durch einen Freund gelang es Pernell, Karten für das Konzert von Little Richard zu ergattern, der inzwischen wieder zum Rock ’n’ Roll zurückgefunden hatte. Sie schlichen sich frühzeitig vor der Matineevorstellung hinein und setzten sich in die erste Reihe. Während des Konzerts gingen sie so lebhaft und begeistert mit, dass Richard sie wiedererkannte und ihnen auf die Schulter klopfte, nachdem sie von Pernells Freund hinter die Bühne geschleust worden waren. „Ihr seid die beiden Jungs, die so viel getanzt haben!“, rief Richard. Am nächsten Tag erzählte Jimi in der Schule seiner gesamten Klasse von seiner Begegnung mit Little Richard, aber nur Wenige nahmen ihm die Geschichte ab. In jenem Herbst sahen sich die beiden außerdem ein Konzert von Bill Doggert an.

      Jimi hat nie offiziell Musikunterricht bekommen, sondern lernte alle Kniffe von den Kids aus seinem Viertel, vor allem von Randy „Butch“ Snipes. Butch konnte auf dem Rücken Gitarre spielen, T-Bone Walker imitieren, und er kriegte einen bewundernswerten Chuck-Berry-Entengang hin. Jimi saß Butch an zahllosen Nachmittagen zu Füßen, beobachtete ihn und versuchte sich auszumalen, wie er selbst eine ähnliche Show hinlegen würde.

      Seit seine Schulnoten beständig schlechter wurden, gehörten Gitarrengriffe zu den wenigen Dingen, die Jimi noch lernte. Der Umzug mit den Bensons hatte wieder einmal auch einen Schulwechsel bedeutet – seine vierte Schule in drei Jahren. In seinem Zeugnis für die neunte Klasse hatte er drei Dreien und fünf Vieren. Die einzig gute Nachricht war, dass er nur eine Sechs hatte – ironischer­weise in Musik. Gelegentlich brachte er seine Gitarre mit in die Schule, doch offenbar konnte er seine Musiklehrer nicht damit beeindrucken, denn sie ­rieten ihm, sich beruflich doch lieber anders zu orientieren. Dass er in Musik durchfiel, lag aber wohl eher an der Kluft zwischen seinen Interessen – Blues, R & B, Rock ’n’ Roll – und der Musiktheorie, die in den späten Fünfziger­jahren an den Schulen gelehrt wurde, als an Jimis aufkeimender Begabung. Bei den standardi­sierten Tests kam er in jenem Jahr nur auf vierzig Prozent, und seine ­schlechten Noten rührten größtenteils von seinen zahlreichen Fehlstunden her. Im Frühjahr verpasste er elf Schultage und kam fast jeden Tag zu spät. „Schwer zu sagen, ob das an seiner schwierigen Situation zu Hause oder seinem Des­interesse an der straff organisierten Schulbildung lag“, bemerkt Jimmy Williams. „Jimi war immer ein Freigeist, und die Schule hat einfach nicht zu ihm gepasst.“

      Seine schlechten Noten bescherten ihm das beschämendste Erlebnis seiner Jugend: Alle Kinder, mit denen er an der Leschi Elementary School aufgewachsen war, wechselten auf die Highschool. Er aber musste die neunte Klasse ­wiederholen. Er erzählte so gut wie niemandem von diesem Umstand und log, wenn er gefragt wurde, welche Highschool er besuche. Die meisten Erwachsenen in Jimis Leben erinnern sich an ihn als aufgewecktes Kind, und in der Tat scheinen seine Schulprobleme vor allem durch mangelndes Engage­ment und Fehlstunden verursacht.

      Wenn Jimi die Schule schwänzte, drehte er, ähnlich wie ein Polizist auf Streife, seine Runden. Unweigerlich machte er Halt bei Leons Pflegeeltern, schaute bei Pernell vorbei, besuchte Jimmy Williams und klopfte bei Terry Johnson an. Er holte Carmen von der Schule ab und brachte sie nach Hause, auch wenn er selbst nicht im Unterricht erschien. Anlaufpunkte auf seinen Touren waren bald auch eine Reihe von Musikern, von denen er hoffte, Tipps für sein eigenes Gitarrenspiel zu erhalten. „Damals waren die Leute echt offen und haben einem Riffs und alles Mögliche gezeigt“, erinnert sich der Schlagzeuger Lester Exkano. „Niemand hätte es je für möglich gehalten, dass man mit Musik Geld verdienen kann, deshalb war es eher eine Frage des Stolzes, anderen die eigenen Ideen zu verraten.“ Exkano erinnert sich, dass Jimis Lieblingsgitarristen damals B. B. King und Chuck Berry waren.

      Einige Musikerfamilien waren von besonderer Bedeutung, nicht nur für Jimi, sondern für viele aufstrebende Musiker im Viertel. Die Familie Lewis – mit dem Keyboarder Dave Lewis als Sohn und dem Vater Dave Lewis senior – war für viele ein wichtiger Einfluss. „Sie hatten einen Keller mit einem Klavier, und die Tür stand immer offen“, erinnert sich Jimmy Ogilvy. „Dave senior spielte Gitarre, aber vor allem hat er den Leuten Mut gemacht. Er hatte Ray Charles und Quincy Jones ein paar Licks gezeigt.“ Die Lewis’ schufen eine Atmosphäre, in der man ­Rückhalt fand, und den Kindern wurde vermittelt, dass Kreativität etwas Positives sei. Die Familie Holden mit den Söhnen Ron und Dave und dem Familienoberhaupt Oscar hielt auf ähnliche Weise Hof. In vielerlei Hinsicht erhielt Jimi in diesen inoffi­ziellen Schulen – den Schulen des Rhythm & Blues, wie er in den Kellern und Hinterhöfen der Innenstadt von Seattle gespielt wurde – seine höhere Schulbildung.

      * * *

      Im Herbst wurde Jimi sechzehn, und die Musik nahm immer mehr Raum