Jimi Hendrix. Charles R Cross. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles R Cross
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783854454403
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so ein Junge war Roy nicht – er fuhr raus in die Welt, aber er kam immer wieder in seinem Cadillac nach Hause zurück. Er fuhr zum Rainier Vista und hupte laut, und alle Kinder kamen herausgerannt und hatten ihn lieb.“ Spätestens an dieser Stelle der Erzählung war Jimi sicher, dass die Geschichte von seiner Zukunft handelte, die noch in weiter Ferne lag und ihm wie ein wunderbarer Traum erschien.

      Kapitel fünf

      Johnny Guitar

      Seattle, Washington

      März 1955 bis 1958

      Held: „Der Name ist Johnny. Johnny Guitar.“

      Erster Schurke: „Das ist kein Name.“

      Zweiter Schurke: „Kopf: Ich bring sie um, Mister; Zahl: Sie dürfen ihr etwas vorspielen.“

      — aus dem Film Johnny Guitar

      Im Frühjahr 1955 wurde Jimi Hendrix mit der sechsten Klasse der Leschi Elementary School fotografiert. Das Klassenfoto mit sechsundvierzig Kindern hätte auch als Postkarte der Vereinten Nationen herhalten können: In seiner Klasse waren jeweils gleich viele afroamerikanische, weiße und Kinder amerikanisch-asiatischer Abstammung. „Es waren eine idyllische Zeit und ein idyllischer Ort“, erinnert sich Jimmy Williams. „Als würde Hautfarbe keine Rolle spielen. Wir hatten das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein.“ Auf dem Foto sieht man Jimi an, dass er sich darüber amüsiert, wie die Erwachsenen versuchen, so viele Kinder zum Stillhalten zu bewegen. Jimi ging in jenem Frühjahr mit der Durchschnittsnote „Drei“ von der Leschi ab und besuchte von nun an die Mittelschule.

      Sein Familienleben hatte jedoch ganz und gar nichts Durchschnittliches. Am 30. März 1955 verzichteten Al und Lucille bei einer Anhörung im King County Courthouse – wo sie auch geheiratet hatten – auf sämtliche elterliche Rechte an Joe, Kathy, Pamela und Alfred Hendrix. Die Anhörung war eine Formalität, denn die Kinder waren längst bei Pflegeeltern untergebracht, dennoch verzichteten Al und Lucille erst mit der Unterzeichnung dieses Dokuments dauer­haft auf „alle und jegliche elterlichen Rechte und Interessen an und gegen­über den Kindern“. Delores Hall sagte, Lucille sei „am Boden zerstört“ gewesen, als sie vor Gericht eingestehen musste, als Mutter versagt zu haben. Auch in Hinblick auf die spätere Behauptung von Al Hendrix, er sei gar nicht Vater dieser Kinder, war die Anhörung bemerkenswert. Vor Gericht bekannte er sich damals in allen vier Fällen zu seiner Vaterschaft.

      Als die gerichtliche Anhörung stattfand, hatte Jimis Situation zu Hause einen neuen Tiefpunkt erreicht. Al hatte seinen Job verloren und lag mit den Ratenzahlungen zurück. Die Zustände in der Wohnung verschlimmerten sich derart, dass selbst die Besuche der verschiedenen Tanten Schmutz und Verfall nicht mehr aufzuhalten vermochten. Als der Footballtrainer Booth Gardner eines Tages vorbeikam, fand er Jimi allein im Dunkeln. „Der Strom war abgestellt“, erinnert sich Gardner.

      Jimi trieb sich völlig unbeaufsichtigt zu jeder Tages- und Nachtzeit im Viertel herum. Viele im Central District kannten ihn, so, wie man einen streunenden Hund kennt, der von Haus zu Haus wandert. Doch trotz seines Eigensinns bewahrte sich Jimi kindlichen Entdeckergeist, und schon bald kannte er jeden Musiker im Viertel, einfach dadurch, dass er dem Klang der Musik folgte. Wenn er Musik aus einer Wohnung hörte, klopfte er neugierig an die Tür. „Mein Bruder spielte Keyboard“, erinnert sich Sammy Drain. „Jimi hat das gehört und kam eines Tages einfach vorbei.“

      Das Vagabundenleben barg jedoch auch Gefahren für einen Jungen im Teen­ageralter. Eines Tages befand sich Jimi mit einer Gruppe von Kindern im Wald. Eines der Nachbarkinder, ein behinderter Junge, blieb zurück. Jimi und die anderen riefen ihm zu, er solle aufschließen, doch irgendwann geriet er außer Sichtweite, und sie gingen zurück, um ihn zu suchen. Als sie den Jungen fanden, war ein älterer Mann im Begriff, ihn sexuell zu missbrauchen, und sie verscheuchten ihn. Zehn Jahre später erzählte Jimi einer Freundin, er sei als Jugendlicher selbst sexuell missbraucht worden. Außer dass es sich um einen Mann in Uniform gehandelt habe, gab er keine weiteren Einzelheiten preis, doch der Vorfall muss ihn geprägt haben.

      Im Sommer drohte auch das Jugendamt wieder einmal damit, Jimi zu Pflege­eltern zu schicken. Als Kompromisslösung erklärte Al sich damit einverstanden, dass Jimi bei seinem Bruder Frank wohnte. Dort stieß Jimi in Gestalt von Pearl, Franks Ehefrau, auf eine weitere starke afroamerikanische Mutter­figur. Sie führte die Familie wie ein Truppenausbilder, sparte bei den Fami­lienmitgliedern aber auch nicht mit Zuneigung und selbst gemachter Apfel­butter. „Meine Mutter hat mir erklärt, dass Jimi ein Zuhause brauchte, weil Al es sich nicht leisten konnte, sich um ihn zu kümmern“, erinnert sich Diane Hendrix. Frank Hendrix arbeitete bei Boeing und verfügte über ein gutes Einkommen, weshalb ein zusätzlicher Esser am Tisch die Familie nicht belastete. Der größte Nachteil, den der Umzug für Jimi mit sich brachte, bestand darin, dass er nun nicht mehr dieselbe Mittelschule wie seine alten Kumpel besuchen konnte. Jimi trat im Herbst in die siebte Klasse der Meany-Schule ein, während seine Freunde weiter die Washington Junior High besuchten.

      Al fand Arbeit als Landschafts- und Gartenarbeiter und sollte den Rest seines Lebens bei dieser Art von Beschäftigung bleiben. Fürs Rasenmähen wurde er nicht gut bezahlt, und so sah er sich gezwungen, Untermieter aufzunehmen. Cornell und Ernestine Benson zogen vorübergehend ein und übernahmen Jimis ehemaliges Zimmer. Ernestine stellte fest, dass Al außer regelmäßigen Mietzahlungen von ihr erwartete, dass sie die Hausarbeit übernahm. Obwohl Al und Lucille seit Jahren geschieden waren, war Als Exfrau Thema zahlreicher Gespräche. „Er nannte sie eine Säuferin“, erinnert sich Ernestine. „Manchmal schimpfte er sie so, wenn er betrunken war. Aber so haben Männer Frauen damals behandelt. Saufende Männer hat man akzeptiert, aber eine trinkende Frau wurde verachtet.“ Seine Trinkerei geriet, wie Ernestine sich erinnert, völlig außer Kontrolle, und manchmal fand er nicht mehr den Weg nach Hause. „Er kam an ein Haus mit einem Tor, und da es bei ihm am Haus ein Tor gab, nahm er an, er wäre zu Hause“, sagte sie. „Er ging rein, setzte sich aufs Sofa und fragte: ‚Was macht ihr denn alle hier?‘ Und die Leute meinten: ‚Im Gegensatz zu dir wohnen wir hier.‘ Und dann haben sie die Polizei gerufen, weil sie ihn loswerden wollten.“

      Das Auftauchen von Ernestine Benson bedeutete in Jimis Leben jedoch auch einen Lichtblick: Sie war Bluesfan und hatte eine umfangreiche Sammlung von Achtundsiebziger-Platten mit ins Haus gebracht. Zum ersten Mal hörte Jimi Muddy Waters, Lightnin’ Hopkins, Robert Johnson, Bessie Smith und Howlin’ Wolf. „Ich habe Blues geliebt“, erinnert sich Ernestine. „Und Jimi mochte genau denselben bodenständigen Kram wie ich.“ Jimis einziges Instrument war sein Besen, aber je länger er sich die Bluesplatten anhörte, desto lebendiger wurde sein Luftgitarrenspiel.

      „Er spielte so heftig auf seinem Besen, dass der alle Borsten verlor“, bemerkt Cornell Benson.

      * * *

      Im Februar 1956 ging das nicht enden wollende Hin und Her in Jimis Leben in eine neue Runde. Frank und Pearl trennten sich und schickten ihn wieder zu Al. Die Bensons zogen aus, und eine Zeit lang waren Al und Jimi wieder allein miteinander.

      Wegen des Umzugs konnte Jimi erneut auf die Washington Junior High wechseln, wo er wieder zu seinen Freunden stieß. Bislang war er ein ganz ordentlicher Schüler, doch in diesem Jahr verschlechterten sich seine Noten dramatisch. Im ersten Halbjahr bekam er eine Zwei, sieben Dreien und eine Vier. Im zweiten Halbjahr waren es drei Dreien, vier Vieren und zwei Fünfen. Frank Fidler, der Direktor der Schule, erinnert sich, Jimi sei regelmäßig in das Büro des Schulleiters bestellt worden, und zwar vor allem wegen seiner schlechten Noten, weniger wegen Ungehorsams. „Er gehörte nicht zu den Kindern, die ständig Ärger machen“, erinnert sich Fidler, „aber er hat einfach nicht gut gelernt.“

      Jimi beendete das Jahr an der Washington Junior High und hätte dort ab September 1956 auch die achte Klasse besucht, hätte es nicht zu Hause weitere Probleme gegeben. In jenem Monat wurde das Haus von der Bank enteignet, und Jimi und Al zogen in eine von einer gewissen Mistress McKay geführte Pension. Jimi musste erneut die Schule wechseln und besuchte nun die achte Klasse der Meany.

      Die Familie McKay hatte einen querschnittsgelähmten Sohn, der auf einer ramponierten Gitarre mit nur einer einzigen Saite spielte. Als die Gitarre aussortiert