Theresa war verheiratet. Trotz ihrer jungen Jahre hatte sie schon fünf Kinder. Ihr erstes Kind brachte sie mit sechzehn zur Welt. Von ihrer Familie hatte sie keine Hilfe zu erwarten. Von den Bekannten bekam sie nur deren Verachtung zu spüren. Mit Hilfe des Jugendamts erhielt sie im Mutter-Kind-Heim der Caritas Burgenland Zuflucht. Theresa bemühte sich, den Säugling hingebungsvoll zu versorgen. Er sollte dereinst ein besseres Schicksal haben als sie selbst. Dieses Bestreben war allerdings alsbald zum Scheitern verurteilt. Die junge Theresa hätte sich an jeden geklammert, der ihr auch nur das geringste Verständnis entgegenbringen würde. Es dauerte nicht lange, dass sie unter rauschgiftsüchtige Jugendliche geriet. Von ihnen fühlte sie sich angenommen. Sie aber wurden nach einer kurzen Phase des Rauschgifthandels erwischt, verhaftet, vor Gericht gestellt und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Sie selbst kam nicht ins Gefängnis und mit einem blauen Auge davon. Die Caritas aber duldete unter den Heiminsassen niemanden, der unter dem Verdacht stand, rauschgiftabhängig zu sein. Theresa musste das Mutter-Kind-Heim verlassen. Da sie nicht wusste, wo sie unterkommen könnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als mit dem kleinen Kind auf der Straße zu leben. Das führte schnell dazu, dass ihr vom Jugendamt das Erziehungsrecht entzogen und die Tochter weggenommen wurde. Theresa fühlte sich einmal mehr um ihr Leben betrogen, brachte die Tage und Nächte unter freiem Himmel zu. Gegen kleine Gefälligkeiten bekam sie Stoff und Lebensmittel.
Damals lernte sie Norbert kennen, der zu der Zeit als Sozialarbeiter Obdachlose betreute. Theresa war Norbert immer sehr dankbar. Von ihm fühlte sie sich verstanden. Er teilte die Vorurteile der Dorfgemeinschaft nicht. Als Erstes veranlasste Norbert für Theresa eine Entziehungskur. Acht Wochen lang wurde sie wegen der bereits eingetretenen Rauchgiftabhängigkeit behandelt. Norbert besuchte das Mädchen jeden Tag. Allmählich entwickelte sich zwischen ihnen ein tiefes Vertrauensverhältnis. Theresa hatte das Empfinden, dass Norbert sie vor einem vielleicht nicht mehr aufzuhaltenden Elend bewahrt hatte.
Nach der Entziehungskur zog Theresa zu Norbert. Das junge Paar plante, Theresas Tochter Jenny zu sich zu holen. Sie hatten auch schon den Kontakt zum Jugendamt aufgenommen. Doch Theresas Erkrankung, die damals ihren Anfang nahm, machte ihnen einen Strich durch die Rechnung.
Anfangs litt Theresa nur unter Schwindel und unsicherem Gang. Sie dachte, vielleicht sei sie schwanger. Deshalb suchte sie einen Arzt auf. Neben einer tatsächlich bestehenden Schwangerschaft wiesen die Laborbefunde auch nicht richtig einzuordnende Abweichungen auf. Deshalb wurde sie zwecks weiterer Untersuchungen ins Krankenhaus geschickt. Nach mehrwöchigen Untersuchungen stand die Diagnose fest: Multiple Sklerose. Wegen der Schwangerschaft aber konnten ihr keine Medikamente verabreicht werden. Denn man befürchtete eine Schädigung des Embryos.
Zur größten Verwunderung der Ärzte aber besserte sich Theresas Zustand während der Schwangerschaft zusehends. Es war so, als wäre eine Selbstheilung eingetreten. Die Krankheitssymptome verschwanden, waren nicht mehr nachweisbar. Nach der Geburt von Christian, ihrem zweiten Kind, tauchte die Multiple Sklerose wieder auf.
Damals war Theresa schon mit Norbert verheiratet. Das Neugeborene und die Behandlung ihrer Krankheit nahmen all ihre Energie in Anspruch. Es war, als würde man ihre Lebenskraft aufsaugen. Sie nahm ab und wurde schwach. In diesem physisch und psychisch miesen Zustand erlebte sie eine Überraschung. Obwohl sie stillte und eigentlich gegen eine erneute Empfängnis gefeit sein sollte, blieb ihre gerade erst wieder funktionierende Periode aus. Theresa ahnte, dass sie schwanger sein musste. Sie kannte ihren Körper nur allzu gut, um jeden Zweifel auszuschließen. Und, oh Wunder, die Symptome der Multiplen Sklerose waren erneut im Schwinden begriffen. Binnen weniger Wochen kam Theresa zu Kräften. Die MS schien wie vom Winde verweht.
Nacheinander kamen unter solchen Begleitumständen Theresas Kinder zur Welt. Auf Christian folgten Thomas, Susanne und Brigitte. Die Schwangerschaften hatten die junge Frau geheilt. Während der jeweiligen Schwangerschaft entwickelte sich die Multiple Sklerose zurück. Theresa war ausgesprochen gern schwanger. Sie war redlich bemüht, ihren Kindern eine gute Mutter zu sein. All ihre Kinder stillte sie möglichst lange.
Norbert war sie zu großem Dank verpflichtet. Denn er war es, der sie vor einem kaum noch zu beherrschenden Schicksal bewahrt und zu sich genommen hatte. Norberts soziale Sensibilität resultierte aus dessen religiöser Einstellung. Als Zeuge Jehovas gehörte er der burgenländischen Gemeinde an. In seiner Familie bestand er auf der Einhaltung vorbildlicher Ordnung. In der Kindererziehung setzte er strenge Maßstäbe. Die Kinder und auch Theresa, die er gleichfalls wie ein Kind behandelte, hatten ihm Achtung entgegenzubringen. In seinen Vorstellungen, wie Familie zu funktionieren hatte, duldete er keinen Widerspruch. Seine Entscheidungen waren von den Familienmitgliedern unbedingt zu befolgen. Abgesehen von seinen Aktivitäten in der Gemeinde widmete er all seine Freizeit der Familie. Ihr Leben unterlag einer strengen Tagesordnung. Fernsehen und Mobiltelefone waren verpönt. Schädlicher Dinge hatten sich die Kinder zu enthalten. Den Genuss von Süßigkeiten und sonstigen Leckerbissen erlaubte Norbert nicht. Ihre Freizeit verbrachten die Kinder mit dem Lesen der Bibel. Norbert erwartete von den Kindern eine perfekte Körperhygiene. Er sah ihnen sogar in den Mund, ob die Zähne ordentlich geputzt waren. Theresa machte ihm keine Sorgen. Über zehn Jahre war die junge Frau mit Schwangerschaften, Entbindungen und Stillen vollauf beschäftigt.
Sie hatte die Dreißig schon überschritten, als sich die Krankheit wieder meldete. Eine medikamentöse Behandlung seiner Frau lehnte Norbert strikt ab. Denn Medikamente hielt er für schädlich und gottlos. Theresas Zustand verschlechterte sich zusehends. Das Sprechen fiel ihr schwer, die Sprache wurde verwaschen, der Gang schwankend.
Der Hausarzt konnte nicht länger tatenlos zusehen, hielt eine Behandlung für unbedingt notwendig. Trotz aller Einwände des Ehemanns sorgte er für eine Einweisung in eine Rehabilitationsklinik in Felbring. Dort geriet sie an den Chefarzt Dr. Arany, der damals in Felbring praktizierte.
Doktor Arany hatte es nicht leicht. Denn Norbert gestattete für Theresa keine Spritzen. Am liebsten hätte er auch die Einnahme von Medikamenten verboten. Allerdings konnte er nicht verhindern, dass die Schwestern in seiner Abwesenheit Pillen in Theresas Mund schleusten, die sich dem keineswegs widersetzte. Im Gegenteil, sie schluckte alles, was ihr gereicht wurde, gern.
Zu der Zeit hatte sie Norberts Kontrollwahn schon ziemlich satt. Freudig unterwarf sie sich ihm zuwiderlaufenden Willensäußerungen, nur um sich den strengen Erwartungen zu widersetzen. Die medikamentöse Behandlung ließ sie gern über sich ergehen. In Felbring fühlte sie sich ausgesprochen wohl. Endlich konnte sie sich Norberts überstrenger Lebensordnung entziehen. In Felbring genoss sie einen Hauch lange vermisster Freiheit. Einzig die Kinder fehlten ihr. Doch Doktor Arany überzeugte sie, dass es unbedingt eines längeren Klinikaufenthalts bedürfe, um die Krankheit in Schach zu halten. Ein Problem sah Doktor Arany lediglich darin, dass Theresa auf jeden Fall eine Injektionsbehandlung brauchte. Die aber verbot Norbert, duldete hierbei keinen Widerspruch. Die Zeugen Jehovas erlauben ihren Gläubigen keine Bluttransfusionen. Norbert dehnte dieses Verbot auch auf Injektionen aus.
Der Doktor rang mit sich. Schließlich beschloss er, sich Norbert zu widersetzen. Eigentlich hätte er sich über Norberts Verbot einfach hinwegsetzen können. Doch diese Lösung verwarf er in Theresas Interesse. Bei einer Gelegenheit, als Norbert seine Frau besuchte, ließ er diesen zu sich ins Arztzimmer bitten, um mit ihm zu reden. Norbert versperrte sich auch weiterhin einer Injektionsbehandlung. Doktor Arany erklärte ihm, dass die Multiple Sklerose mittels moderner Injektionsbehandlungen gut zu beherrschen sei und die Verschlechterung der Symptome verhindert werden könnte. Norbert sei kein Fachmann, also stünde ihm auch nicht zu, die Anwendung zeitgemäßer Heilmethoden zu verbieten. Norbert akzeptierte das nicht und argumentierte vielmehr, dass die Heilung in Gottes Hand sei, weshalb er der Anwendung gottloser Methoden nicht zustimmen könne. Daraufhin wollte der Doktor ein Protokoll aufnehmen, wonach Norbert trotz fachlicher Argumente gegen eine Heilbehandlung protestiere. Der aber bestand darauf, Theresa zu dem Gespräch hinzuzuziehen.
Kaum dass Theresa das Arztzimmer betreten hatte, fiel Norbert über sie her, erklärte keinen Widerspruch