Khaled tanzt. László Benedek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: László Benedek
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783963115813
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An der Rezeption wurde sie nach ihrem Begehr gefragt. „Ich möchte gern“, so Kerstin, „Herrn Heinrich Dümmel besuchen.“ Beim Namen ‚Dümmel‘ überschlug sich ihre Stimme. Die Schwester nickte zustimmend, wollte aber unbedingt wissen, wen sie Herrn Dümmel melden dürfe. Mit dieser Frage hatte Kerstin nicht gerechnet. Doch sie fasste sich schnell und meinte: „Eine gute Bekannte.“

      Die Schwester verschwand. Kerstin sah sich um. Das Gebäude mochte auch schon bessere Zeiten erlebt haben. Es wirkte irgendwie noch immer elegant. Hohe Fenster mit schweren Vorhängen zeugten davon. Ansonsten ringsum einfache Tische und Holzstühle mit Rückenlehnen. Im Aufenthaltsraum, der auch als Speisesaal fungierte, saßen alte Menschen. Offensichtlich war sie in ein Altersheim geraten. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen.

      Es dauerte nicht lange, und die Schwester schob einen im Rollstuhl sitzenden Mann vor die junge Besucherin. Der war wesentlich jünger als die anderen Heiminsassen. Bartstoppeln bedeckten das müde wirkende Gesicht. Kerstin registrierte sofort, dass Herrn Dümmel das rechte Bein fehlte.

      „Herr Dümmel“, wandte sich die Schwester an den Rollstuhlfahrer, „hier ist Ihre junge Besucherin.“

      Kerstin stand wie angewurzelt da, brachte kein einziges Wort hervor. Sie hatte sich einen stattlichen jungen Mann vorgestellt. Stattdessen sah sie sich einem menschlichen Wrack gegenüber.

      Herr Dümmel rülpste genüsslich. Sonderliches Interesse schien die Besucherin bei ihm nicht auszulösen. Dennoch fragte er, was ihm die Ehre verschaffe.

      Kerstin nahm all ihren Mut zusammen: „Ich komme aus Brunstad, bin Mitglied der dortigen Christengemeinschaft und statte im Rahmen eines Austauschprogramms meinen Hamburger Brüdern und Schwestern einen Besuch ab.“

      Der Name Brunstad ließ Herrn Dümmel aufhorchen: „Tatsächlich? Aus Norwegen? Dem norwegischen Brunstad?“

      Kerstin nickte.

      „Ich hatte dort eine nette Bekannte, Berta Holberg“, fuhr Herr Dümmel fort. „Vielleicht kennen Sie die Dame sogar? Berta Holberg.“

      Kerstin spürte, wie ihr das Blut aus den Adern wich, sodass sie kurz vor einer Ohnmacht stand. Deshalb setzte sie sich schnell hin. „Die kenne ich. Sie ist Mitglied unserer Gemeinde. Sie war es ja gerade, von der ich Ihren Namen habe. Sie meinte, wenn ich in Hamburg sei, könnte ich Sie vielleicht aufsuchen.“

      „Na, sowas! Das ist wirklich sehr freundlich!“ Mit diesen Worten lud er das Mädchen in sein karg eingerichtetes Zimmer ein. Außer dem Bett gab es nur noch einen Tisch und einen Schrank sowie einen einsam dastehenden Stuhl. An der Wand hing ein vergilbtes Gemälde. Die Luft war abgestanden. Alkoholgeruch schlug ihr in die Nase.

      Herr Dümmel bot der Brunstaderin einen Schluck Wein aus der Flasche an. Kerstin wehrte das Angebot leicht angewidert ab. Ohne viel Aufhebens nahm Herr Dümmel einen kräftigen Schluck aus der Pulle und bat die Besucherin, ihn beim Personal nicht anzuschwärzen: „Die quälen mich mit ihrer unausstehlichen Neugier ohnehin schon zur Genüge. Was ist denn dabei, wenn ich mir hin und wieder einen Schluck genehmige?“

      Schließlich nahm Kerstin all ihren Mut zusammen, um Herrn Dümmel auszufragen: „Sie kennen Frau Berta also noch aus Norwegen?“

      „Genau! Wissen Sie, mein liebes Mädchen, das waren damals andere Zeiten!“ Bevor er fortfuhr, genehmigte er sich noch einen Schluck. „Sie haben damals vermutlich noch nicht gelebt, als wir den norwegischen Brüdern zu Hilfe geeilt waren.“

      „Sie meinen, im Krieg? Wenn ich Sie recht verstehe.“

      „Natürlich im Krieg.“ Herr Dümmel verstand nicht, wie man so eine dumme Frage stellen konnte. „In Norwegen waren sehr viele deutsche Soldaten stationiert. So auch ich.“

      Das Gespräch stockte. Beide schwiegen. Nun war Kerstin endlich am Ziel ihrer Träume, saß zweifellos ihrem Vater gegenüber. Der Mann war sichtlich bewegt. Die Erinnerung an Norwegen ließ seine Augen feucht werden. Ungezählte Male hatte Kerstin sich vorgestellt, von ihrem Vater in die Arme genommen zu werden. Jetzt aber empfand sie nichts als Mitleid und tiefe Enttäuschung. Um den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen, ging Kerstin auf seine Verwundung ein.

      Der Fremde nickte, reagierte aber nicht gleich auf die neugierige Frage des Mädchens. Dann nur dies: „Kriegsgefangenschaft.“

      Bedauernd sah Kerstin ihr Gegenüber an, der plötzlich gesprächig wurde: „Am Tag der Kapitulation wurden wir allesamt verhaftet. Die Offiziere wurden standrechtlich erschossen, während wir Landser auf einem mit Stacheldraht umzäunten Grundstück zusammengepfercht wurden. Einige Tage später transportierte man uns in ein Kriegsgefangenenlager nach Frankreich. Dort gingen wir durch die Hölle. Die Wehrmachtsoldaten hatten alle niedrigen Arbeiten zu verrichten. Wir hatten die Minen von den Schlachtfeldern zu räumen. Sie, mein liebes Mädchen, können sich vielleicht vorstellen, was das für eine Drecksarbeit war! Den Krieg hatten viele meiner Kameraden überlebt. Nun aber wurden sie von Minen zerfetzt. Dort habe ich mein rechtes Bein verloren.“

      „Ein Glück noch“, meinte Kerstin, „dass Ihnen nichts Schlimmeres zugestoßen ist!“

      „Lazarett, Amputation, Wundfieber, Koma! Ein Wunder, dass ich am Leben geblieben bin!“

      „Und wie sind Sie nach Deutschland zurückgekehrt?“

      „Mit den pflegebedürftigen Kriegsgefangenen wussten die Franzosen nichts anzufangen. Ich wurde nach Deutschland in die französische Zone verfrachtet, wo ich noch zwei weitere Jahre in Gefangenschaft verbrachte. Von dort hat mich die Diakonie herausgeholt und hier in dieses Seniorenheim gesteckt. Alt bin ich zwar noch nicht, aber in meiner Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt.“

      Kerstin beschloss, ihre Identität nicht preiszugeben. Beim Abschied trug Herr Dümmel dem Mädchen auf, Frau Berta herzlich zu grüßen. Was Kerstin natürlich versprach, obwohl sie sehr wohl wusste, dass sie der Mutter gegenüber den Besuch verheimlichen würde.

      — —

      Kerstin war noch mit ihren Erinnerungen beschäftigt, als Khaled plötzlich gutgelaunt vor ihr stand.

      „Du scheinst mit Doktor Arany ein gutes Gespräch gehabt zu haben.“

      „Ja“, so der Junge. „Haben über Afghanistan und meine Kindheit gereden.“

      „Das ist gut!“, entgegnete Kerstin und drehte sich ein wenig zur Seite. Khaled sollte die Tränen in ihren Augen nicht sehen.

      Theresa

      Im Tagebuch des Chefarzts fanden sich selten persönliche Eintragungen. Mit Theresa aber schien er eine Ausnahme gemacht zu haben. Vermerkt war nur dies: „Theresa – MS!“ Als der Doktor in den Ruhestand versetzt wurde, kümmerte er sich nur noch um einige wenige Patienten. Ihnen bot er an, sie auch weiterhin in seiner Privatpraxis zu behandeln. Mit über siebzig, so glaubte er, dürfe er sich seine Patienten aussuchen. Mir verriet er, dass er nur die ihm liebsten Patienten zu sich in die Privatpraxis einbestellte. Allerdings waren die meist zahlungsunfähig. Also erwartete Chefarzt Dr. Arany auch keine Honorierung. Theresa war eine von diesen privilegierten Patientinnen. Es sei schon Bezahlung genug, meinte er, dass sie nach Hohe Wand hochkraxeln mussten.

      Theresa war fünfunddreißig Jahre alt und litt an einer der problematischsten Krankheiten, an Multipler Sklerose.

      — —

      In Hohe Wand hielt vor dem Haus Doktor Aranys ein kleines Auto an. Eine junge Frau sprang behend heraus. Alsbald krochen vom Rücksitz vier Kinder hervor. Zwei größere Schulkinder und zwei kleinere im Kindergartenalter. Die kleinen übergab sie der Obhut der beiden größeren: „Spielt schön auf der Veranda, während ich mich mit dem Doktor unterhalte!“

      Theresa setzte sich, um ein wenig zu verschnaufen. Doktor Arany war nicht gerade begeistert, dass Theresa jedes Mal die Kinder mitbrachte. Doch er sah ein, dass der jungen Frau nichts anderes übrig blieb, dass sie sich in den Schulferien um die Kinder selbst kümmern musste. Also passte er sich den Gegebenheiten an, zumal die Kinder ohnehin nicht sonderlich störten.

      — —