Jetzt wandte sich Doktor Arany an Theresa: „Ich habe Ihnen doch die Vorteile der von mir vorgeschlagenen Heilbehandlung erläutert. Allem Anschein nach verbietet Ihr Mann diese Behandlung. Ich aber wäre jetzt auf Ihre Meinung neugierig. Wollen Sie sich dieser Heilmethode unterziehen?“
Theresa sah ihren Mann an, dann den Doktor. Schließlich stieß sie ein deutliches „Ja!“ hervor.
„Was heißt hier: Ja?“, tobte Norbert. „Theresa, das kannst du mir nicht antun!“
Theresa sah erst wieder Norbert, dann den Doktor an. Schwieg.
„Wenn Sie mit der Behandlung einverstanden sind“, so Doktor Arany, „müssen Sie eine Erklärung unterschreiben.“
Nach einer kurzen Pause Theresas Frage, wo sie unterschreiben solle.
„Hier!“, legte der Doktor die Erklärung zur Unterschrift hin. Theresa unterschrieb, während Norbert wutentbrannt den Raum verließ.
Also wurde in Felbring mit der Injektionsbehandlung begonnen, die der Doktor später in seiner Privatpraxis fortsetzte.
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Seit Theresa die Copaxone-Spritzen erhielt, stabilisierte sich ihr Zustand. Sie sah zu, dass sie die Sache vormittags erledigte, solange sich Norbert nicht zu Hause aufhielt. Denn der konnte sich mit diesem Eingriff in die göttliche Ordnung auch weiterhin nicht abfinden.
„Hatten Sie“, fragte der Doktor, „wegen der Spritzen Konflikte?“
„Der hat damit ewig Probleme. Er sähe es gern, würde ich die Behandlung abbrechen.“
„Und wie können Sie die Sache trotzdem lösen?“
„Ich muss die Ampullen und das Spritzenbesteck verstecken. In einem Fass im Keller. Dort wird er hoffentlich nicht danach suchen! Denn mein Nécessaire und die Medikamentenschachtel inspiziert er ständig. Die Spritzen gebe ich mir vormittags, wenn er arbeitet. Auch vor den Kindern halte ich die Behandlung geheim.“
Der Doktor nickte anerkennend.
„Mir geht es schon viel besser. Praktisch bin ich beschwerdefrei“, fuhr Theresa fort. „Auch meine Energielosigkeit und ständige Müdigkeit haben stark abgenommen. Ich bin optimistisch. Obwohl ich weiß, dass meine Krankheit nie ganz geheilt werden kann, versuche ich immer, allem eine gute Seite abzugewinnen.“
„Ich bewundere Ihren Optimismus. Nach all dem, was Sie durchgemacht haben, ist ihre positive Einstellung wirklich herzerfrischend.“
„Mit Lamentieren erreicht man nichts. Ich habe fünf Kinder, eine schöne Familie. Ich hätte auch eine verworfene rauschgiftsüchtige Person werden können. Bin ich aber nicht geworden. Sie wissen ja, wieviel ich Norbert zu verdanken habe. Das werde ich ihm nie vergessen und ihm mein ganzes Leben dankbar sein.“
Doch der Doktor wusste sehr wohl, welch hohen Preis Theresa dafür gezahlt hatte. Denn Norbert schränkte die persönliche Freiheit der jungen Frau stark ein. Doktor Arany meinte, dass Norbert, der die Fünfzig schon überschritten hatte, die hübsche junge Frau eifersüchtig von der Außenwelt abschottete. Durch die Kinder blieb Theresa keinerlei Zeit für sich selbst. Praktisch war Doktor Arany die einzige Möglichkeit, für eine kurze Zeitspanne dem Alltag zu entfliehen. Als hätte sie in Doktor Aranys Gedanken gelesen, meinte sie: „Sie denken bestimmt daran, wie heftig sich Norbert den Injektionen widersetzt hat.“
„Zweifellos!“
„Letztlich kann man auch Norbert verstehen. Außer den kirchlichen Lehren kann er sonst nichts akzeptieren. Aber eigentlich hat er ein gutes Herz! Man kann ihm alle Lasten der Welt aufbürden. Ich will damit nur sagen, dass sich unter seiner rauen Schale eine weiche Seele verbirgt. Die raue Schale freilich könnte ich manchmal an die Wand schmeißen.“
Der Doktor wurde hellhörig: „Also was nun, eine weiche Seele oder eine raue Schale, die Sie am liebsten an die Wand schmeißen würden?“
Theresa wurde nachdenklich. Anscheinend war durch das Bild mit der rauen Schale, die sie am liebsten an die Wand schmeißen würde, ein Damm gebrochen: „Ehrlich gesagt geht mir dieser Mensch manchmal auf den Keks. Obwohl ich in der Wohnung auf vorbildliche Ordnung bedacht bin, weil ich ja weiß, wie pedantisch und ordnungsliebend er ist, findet er immer ein Haar in der Suppe, einen Schnipsel oder Krümel auf dem Parkett. Bei so vielen kleinen Kindern kommt das leider vor, ist oft unvermeidlich. Und dann seine ewigen Eifersüchteleien. Damit treibt er mich in den Wahnsinn. Warum ich mit dem oder jenem gesprochen habe? Als würde ich gleich hinter dem nächsten Strauch mit einem von ihnen schlafen wollen. Fortwährend behandelt er mich so, als wäre ich eines von seinen Kindern. Ständig bin ich ihm Rechenschaft schuldig, ständig weist er mich zurecht und verbietet mir das Wort. Nichts kann ich ihm recht machen, immer mache ich etwas falsch.“
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In seinem Tagebuch zitierte der Doktor Theresas Worte wortwörtlich. Merkte an, dass Theresa gegen Norbert wie ein Backfisch gegen einen allzu strengen Vater aufbegehre.
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„Wie“, fragte der Doktor, „war Ihre Beziehung zu den Eltern? Durften Sie denen widersprechen, sich gegen sie auflehnen?“
„Ich, in meiner Kindheit?“, lachte Theresa auf. „Mich dort gegen etwas zu empören, das wäre tatsächlich schwer gewesen. Mein Vater kümmerte sich überhaupt nicht um uns. Er erwartete lediglich, dass wir ihm aus dem Laden die Tagesmenge Schnaps holen. Wenn die da war, dann hätten wir seinetwegen das ganze Haus ausräumen können. Und meine Mutter? Sie duldete keinen Widerspruch. Wenn ihr etwas gegen den Strich ging, setzte es Hiebe. Ist es ein Wunder, dass wir nicht gern nach Hause gingen?“
„Das heißt, eigentlich hatten Sie niemanden, gegen den sie aufzubegehren gewagt hätten?“
„Genau.“
„Mit Norbert scheinen Sie jetzt gerade dasselbe durchzumachen. Sie würden sich gern empören, trauen sich aber nicht.“
Theresa schnitt ein verblüfftes Gesicht: „Schon möglich. Aber, Herr Doktor, Sie müssten nur einen einzigen Tag mit ihm verbringen! Dann würden Sie anders darüber denken, dann würden Ihnen die Augen geöffnet werden. Norbert ist ziemlich anstrengend!“
Die Gesprächsstunde war zu Ende. Theresa lobte die Kinder, wie schön still sie sich verhalten hatten. Die Kinder waren auf der Terrasse in eine Zeichnung vertieft. Khaled half ihnen dabei.
„Bin etwas früh zu Stunde gekommt“, entschuldigte sich Khaled. „Habe mit Kinder gespielen. Hoffentlich nicht schlimm sein?“, wandte er sich an Theresa. Die schüttelte nur den Kopf.
Doktor Arany
Doktor Arany ist der vierte Akteur unserer Geschichte. Sein Fachtagebuch verrät allerdings wenig von ihm selbst. Deshalb dachte ich, das Porträt des Doktors am besten durch die mit ihm geführten Unterhaltungen zeichnen zu können.
Doktor Arany kenne ich seit mehr als zwanzig Jahren. Gelegentlich zahlreicher Kulturveranstaltungen der in Österreich lebenden Ungarn begegneten wir uns immer wieder. Im Lauf der Jahre entwickelte sich aus unserer Bekanntschaft eine Freundschaft, die durch unsere Kartenabende noch weiter vertieft wurde. Sein Arzttagebuch, das er mir eines Tages überließ, schlug in unserer Beziehung ein neues Kapitel auf.
Die Lektüre des Tagebuchs weckte in mir ähnliche Empfindungen wie die an verschiedenen Punkten der Welt aufgestellten Webkameras, durch deren Vermittlung ich meine virtuellen Reisen erlebte. Das Tagebuch vermittelte mir tiefe Einblicke in voneinander unabhängige Lebenswege und Welten. Unwillentlich begann ich nach dem Gemeinsamen und dem miteinander Zusammenhängenden in diesen Lebenswegen zu suchen. Wo befindet sich der Punkt, an dem sich diese voneinander so weit entfernten Welten begegnen könnten?
Vor unserer Kartenpartie begab ich mich einmal nach Hohe Wand zu Doktor Arany, um mich mit ihm allein zu unterhalten. Hohe Wand, etwa zwanzig Kilometer von Wiener Neustadt entfernt, ist die eine Erhebung der Wiener Alpen. Nach Verlassen des flachen Lands folgt, bevor sich unseren Blicken das imposante