Bei Doktor Arany traf er für gewöhnlich in einem bunten Fußballpolohemd ein. Er war ein geschickter, sportlicher und fußballbegeisterter junger Mann. Sein Lieblingsklub war der FC Barcelona. So nimmt es nicht wunder, dass er als fanatischer Messi-Fan auch jetzt in einem Messi-Polo erschien, in einem rot-blauen Trikot, worauf sich vorn der unerlässliche Aufdruck Qatar Airways befand, auf dem Rücken aber die Nummer 10 mit Messis Namen darunter. Für gewöhnlich trug Khaled dieses Trikot. Doktor Arany stellte sich die Frage, ob Khaled dieses Hemd manchmal auch ausziehen würde. Doch der beruhigte den Doktor mit dem Hinweis darauf, dass er mehrere solcher Polos besäße.
Des Öfteren spielte Khaled zusammen mit anderen Flüchtlingen Fußball. Wenn bei der lokalen Amateurmannschaft Bedarf an einem Linksaußenverteidiger oder einem Torwart bestand, griff man gern auch auf Khaled zurück. Im offiziellen Spiel wurde er zwar nicht eingesetzt, beim Training aber gern. Er galt als geschickter Fußballer. Doktor Arany ermutigte ihn, sich immer wieder einzubringen. Die meisten Probleme der Flüchtlinge, so meinte er, resultierten ohnehin aus dem Müßiggang. Auch darüber freute er sich, wenn Khaled möglichst oft die Gesellschaft von Österreichern suchte. Denn ein täglich mehrstündiger Aufenthalt im deutschsprachigen Umfeld sei eine der besten Methoden zum Üben der Sprache. Nun ja, der Fußball geht nicht unbedingt mit intensiven Gesprächen einher, doch in den Pausen und in der Umkleidekabine lernte Khaled doch so manches.
Khaled besaß gute Fähigkeiten. Für die analphabetischen Geflüchteten hatte man Spezialklassen eingerichtet, wo sie sich schulische Grundkenntnisse aneignen konnten. Begleitet wurde die Vermittlung von deutscher Sprechfähigkeit, Lese- und Schreibübungen, ein wenig Grammatik, auch von Rechenunterricht. Die Schule ging für Khaled mit wöchentlich fünfmal halbtägiger Beschäftigung einher, ergänzt durch Fußball am Nachmittag. Der junge Mann konnte sich also den ganzen Tag der Konfrontation mit der deutschen Sprache nicht entziehen. Dies wirkte sich auch auf eine neugewonnene Selbstsicherheit aus. Den entsprechenden Unterricht der Grundschule absolvierte er innerhalb von anderthalb Jahren. Deutsch erlernte er somit mehr oder weniger akzeptabel.
Doktor Arany gegenüber beklagte er sich gelegentlich, dass ihn von der vielen Konzentration der Kopf schmerze. Doch der Doktor winkte nur ab: „Wenn es weiter nichts ist!“ Er solle noch mehr Fußball spielen, dann würden die Kopfschmerzen vergehen.
Khaled nahm den guten Rat an und begab sich auf den Fußballplatz, sooft es nur ging. Dass er endlich lernen und all das nachholen konnte, was er in den ersten achtzehn Lebensjahren gezwungenermaßen versäumt hatte, hielt er für eine große Möglichkeit.
Nicht selten überkam Doktor Arany ein Anflug von Gerührtsein, wenn er an Khaled dachte. Für den liebenswürdigen Jungen hegte er väterliche oder, wir könnten auch sagen, großväterliche Gefühle. Aus verständlichen Gründen klammern sich die Flüchtlinge oft aneinander, versuchen, die Schwierigkeiten gemeinsam zu bewältigen. Khaleds offene und freundliche Persönlichkeit, so meinte er, habe ihm auf seinem beschwerlichen Weg ans Ziel seiner Sehnsucht viel geholfen, vielleicht sogar zu dessen Überleben beigetragen.
Eine solche Mentalität wirkte sich beim Ertragen des mit der Flucht einhergehenden Stresses und der erlittenen Traumata bestimmt günstig aus. Doch Doktor Arany sah auch, dass die Geflüchteten eng zusammenhockten, was sich, nach deren Aufnahme, auf ihre Anpassung und Integration auch hinderlich auswirken konnte. Wenn man immer nur mit seinen Landsleuten und Schicksalsgenossen kommuniziert, wenn man immer nur in seiner Muttersprache redet und sich gegenüber der Umwelt feindselig verhält, dann ist eine Anpassung gewiss sehr schwer. Doktor Arany verstand dieses Verhalten, obwohl er es freilich für kontraproduktiv hielt.
Khaleds Offenheit und Kommunikationsfähigkeit innerhalb seiner deutschsprachigen Umgebung erschienen dem Doktor ausgesprochen sympathisch. Auch dass er sich nicht schämte, um Hilfe zu bitten, aus seinen Unzulänglichkeiten kein Geheimnis machte, fiel angenehm auf. Landsleute könnten meinen, Khaled habe leicht reden, so ohne Familie und sonstige Bindungen … sofern es denn von Vorteil sei, dachte der Doktor, wenn jemand auf dieser Welt mutterseelenallein sei.
Zweifellos hatten fast alle Geflüchteten bei ihrer Eingliederung mit großen Problemen zu kämpfen. Bei Khaled zeigten sich derartige Schwierigkeiten kaum. Dank seines heiteren Wesens machte er einen verhältnismäßig ausgeglichenen Eindruck. Warum hatte er sich dann, wo seine Eingliederung doch ausgesprochen glatt zu verlaufen schien, an einen Arzt gewendet?
Auch wenn es unter den Flüchtlingen manchen gab, der vor Gesundheit strotzte, unterzogen sich fast alle einer medizinischen Betreuung. Besonders junge Männer ohne die Fesseln familiärer Bindungen hielten die physischen Belastungen und seelischen Strapazen der Flucht ohne sichtbare Folgen aus. In vielen Fällen wurden die jungen Männer von ihren fluchtwilligen Familien vorausgeschickt, um stabile Bedingungen für deren Exil zu schaffen.
Diese Erwartungen erweisen sich meist natürlich als vollkommen haltlos. Die Flucht, die Loslösung von der Heimat bedeutet eine nur schwer aufzuarbeitende psychische Belastung. Hinzu kommt die erzwungene Untätigkeit. Denn für die Zeit der Bearbeitungsdauer des Asylantrags ist eine Arbeitsaufnahme nicht gestattet. Das Verfahren zieht sich über Monate, manchmal sogar über Jahre hin. Und ob das Asyl gewährt wird oder nicht, steht in den Sternen. Jede Möglichkeit, die den Asylanten vom staatlich verordneten Nichtstun befreit, ist ihm willkommen. So auch die medizinische Betreuung.
Doktor Arany war der Überzeugung, dass sich die Geflüchteten nicht deshalb oft an einen Arzt wandten, weil sie schrecklich krank waren, sondern deshalb, weil die ärztliche Visite im eintönigen Alltag eine willkommene Abwechslung war.
So könnte auch Khaled zu Doktor Arany gelangt sein. Seine vorgetragenen Beschwerden beschränkten sich also auf wiederholt auftretende Kopfschmerzen. Dafür, so spürte Doktor Arany gleich, musste es tieferliegende Gründe geben, nachdem alle bisherigen Untersuchungen ergebnislos verlaufen waren. Eigentlich hätte er sich auch mit einer medikamentösen Behandlung zufriedengeben können. Doch Doktor Arany, der Seelendoktor, wäre nicht Doktor Arany gewesen, hätte er nicht den Anspruch gehabt, in tieferliegende Schichten der Seele vorzustoßen und so vielleicht die Ursache für die Kopfschmerzen aufzudecken.
Der Arzt aus Leidenschaft sah gleich, dass ihm mit Khaled ein noch ungeschliffener Diamant in die Hände geraten war, den es zu bearbeiten galt. Diese Überzeugung wurde auch von Kerstin, Khaleds Betreuerin, geteilt. Sie brachte den Jungen persönlich zu den Behandlungen.
Schon bei der ersten Visite erklärte Kerstin, dass es für sie von außerordentlicher Wichtigkeit sei, aus Khaled einen anständigen und glücklichen Menschen zu formen, ihm dabei behilflich zu sein, sich in seiner Wahlheimat zu integrieren. Sie bat Doktor Arany, ihr in diesem Bestreben zur Seite zu stehen. Der übernahm bereitwillig die Rolle als Mentor.
Anfangs experimentierte auch er mit verschiedensten Medikamenten und Relaxionsübungen. Doch mit der Zeit wurde ihm die Vergeblichkeit seiner Bemühungen klar. Oder, besser gesagt, die Vergeblichkeit einer medikamentösen Behandlung. Die Kopfschmerzen hatten offensichtlich nichts mit organischen Problemen zu tun. Langsam und mit viel Geduld tastete sich Doktor Arany vor, ohne seinen Patienten mit neugierigen Fragen verschrecken zu wollen. Er musste sein Vertrauen gewinnen. Vorerst schien Khaled keinen Arzt haben zu wollen, sondern vielmehr einen lieben Verwandten, einen Großvater.
So also verzichtete der Doktor auf eine medikamentöse Behandlung. Dennoch riss der Kontakt nicht ab. Khaled wusste selbst nicht, warum er den Doktor immer wieder aufsuchte. Es hatte den Anschein, als erwartete er von diesem Hilfe dabei, die Jahre seines früheren Lebens vergessen und die Unbilden in der neuen Heimat in den Griff bekommen zu können. Wöchentlich einmal suchte Khaled den Doktor auf, um diesem zaghafte Einblicke in sein wechselvolles Leben zu gewähren. Khaled überblickte nicht wirklich, was in diesen Sitzungen vor sich ging. Dennoch waren ihm diese Gespräche nicht unangenehm, auch wenn dadurch längst vernarbte Seelenwunden aufplatzten. Aber er hatte das Gefühl, nachdem sich zwischen Arzt und Patient allmählich ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte, dass es ihm wohltat, über Verschüttetes zu reden.
Khaled hatte in der Zwischenzeit ziemlich gut Deutsch gelernt, auch wenn er noch viele Fehler machte und die Grammatik zu wünschen übrig ließ. Doch was er sagen wollte, das konnte er vermitteln. Wenn ihm ein Wort nicht