ZWEI FINGER FÜR EIN HALLELUJA
Michael Ringel
Die zweite Beerdigung des Jahres war sogar noch komischer als die erste im März. Irgendwann während des Leichenschmauses war das Niveau da, wo es hingehörte: unterirdisch. Die Hinterbliebenen erzählten sich Kinderwitze aus der Wortspielhölle. Mein Favorit: Findet ein Junge im Zug einen Hut. Im Inneren des Hutes ist ein Name eingestickt: Reinsch. Geht der Junge mit dem Hut durch den Zug und fragt: »Irgend jemand, der hier Reinsch heißt?«
Gibt es im journalistischen Gewerbe eigentlich die Sparte des Beerdigungskritikers? Ich melde mich freiwillig, und da der Tod in letzter Zeit immer näher kommt, bringe ich inzwischen einige Erfahrung mit. Innerlich gewöhne ich mich schon an die Berufsbe-zeichnung und sehe auch die entsprechende Zeile auf meiner Visitenkarte vor mir: »Beisetzungskritiker«. Das klingt doch nach etwas! Auch wenn es ein noch viel zu unterbewerteter Berufszweig ist. Etwa so unterschätzt wie der des Bestatters. Warum kennt man nur so wenige Bestattungsunternehmer? Wahrscheinlich gibt es in diesem Metier höchst luzide Persönlichkeiten. Wie zum Beispiel jene Bestattungsfachkraft, der ich vor der Friedhofskapelle am vergangenen Freitag die Hand gab.
Kurz darauf saß ich in der Kapelle und fixierte das mittlere der drei bunten Kirchenfenster. Reflexartig war ich in das alte Konfirmandensyndrom verfallen: Sitzt du in einer Kirche, dann suche dir einen markanten Punkt, fixiere ihn unentwegt und lasse deine Gedanken schweifen, bis dir etwas Komisches in den Kopf kommt. Dann denke an nichts anderes mehr. Das hilft, wenn es auf der Kanzel zu pathetisch wird oder der Schmerz dich überwältigt oder dich die Wut überkommt wegen der Abwesenden, die zu feige waren, zu erscheinen, um dem ehemals eng Befreundeten die letzte Ehre zu erweisen. Unehrenhafte Leute sind das, die Angst haben, auf Trauernde zu treffen, mit denen sie verfeindet sind. Als ob das im Angesicht des Todes zählen würde.
An genau dem Punkt war das Beiseitedenken sehr nützlich, ausnahmsweise aber berechnete ich einmal nicht die Entfernung zwischen mir und dem Kirchenfenster und wie lange ein Stein bräuchte, um im Fensterkreuz einzuschlagen. Meine Gedanken umkreisten vielmehr den Bestatter, genauer: seine Hand, die ich eben noch gedrückt hatte. An der Rechten, wie ich gleich bemerkte, fehlten ihm der Ring- und der Mittelfinger. War ihm ein Sargdeckel draufgefallen? Oder war er beim Zersägen abgerutscht? Oder wollte er absichtlich ein Teufelshorn haben? Oder hatte er eines Tages, verzweifelt über sein ewiges Ringen mit dem Tod, dem Sensenmann den Stinkefinger gezeigt, der ihm zur Strafe gleich zwei Finger absäbelte? Und bestellt er heute in seiner Stammkneipe zu fortgeschrittener Stunde auch schon mal fünf Bier für die Männer vom Sägewerk und hält dann dem Wirt drei Finger hin? Haben Bestatter überhaupt Humor?
Eine letzte Frage: Hat man keinen Respekt vor den Toten, wenn man bei einer Trauerfeier Komisches denkt? Im Gegenteil! Sonst hätte der Tod ja gewonnen. Humor ist das einzige Mittel, den Tod zu besiegen. Man sollte mal mit einem Bestatter ein Bier trinken gehen. Vielleicht kennt er noch eine andere Methode.
taz, 17. August 2007
EIN STÄDTEBAULICHES DESASTER FÜR GREIZ
Michael Rudolf
Greiz. Wenn erst einmal in einer thüringischen Kleinstadt mit reichlich 30000 Einwohnern der marktwirtschaftliche Groschen gefallen ist, dann gibt es kein Halten mehr. Was derzeit heiße Köpfe bei engagierten Bürgern erzeugt, ist eine geplante fünfspurige Entlastungsbrücke über die Weiße Elster, um die Greizer Innenstadt vom Verkehr der Bundesstraßen 92 und 94 freizuhalten. Die Blechlawine beschert der Stadt nicht erst seit 1990 morgens von sieben bis elf und nachmittags von 14 bis 18 Uhr den Kollaps mit mehr stop als go. Die ungünstige Tallage fördert zudem eine nicht nur den Einwohnern hart zusetzende Dunstglocke.
Das Ganze ist eigentlich hausgemacht, denn die neuen Westautos wollen ausgefahren sein, der öffentliche Nahverkehr erscheint unattraktiv. Daß freilich der Individualverkehr in der Stadt problematisch ist, war bereits zu SED-Zeiten bekannt, Projekte für eine Art Entlastungshochstraße geisterten durch die Bauämter, aber eben nur dort. Mit der Wende und den seit jüngst zur Verfügung stehenden Mitteln aus Bonn wurden vergilbte Pläne wieder ausgerollt.
Angesichts der Bestrebungen in den alten Bundesländern, die Straßen »zurückzubauen«, nehmen sich die Aktivitäten in Greiz eher grotesk aus. Der aus dem Westen importierte Bürgermeister Leonhardt (CDU) drückt bei den Stadtverordneten kräftig auf die Tube, man solle schnell entscheiden, da die Mittel nicht unbegrenzt lang bereitstünden. Da ganz im Sinne von Bundesverkehrsminister Krause alles so schnell wie möglich gehen soll, blieb die generell in solchen Fällen übliche Ausschreibung eines Architektenwettbewerbs unberücksichtigt. Einer öffentlichen und ausführlichen Diskussion zu diesem Thema wurde schlicht das Wort abgeschnitten. Die Modelle und Baupläne wurden zwar in der Stadtinformation ausgestellt, doch sind diese nach Meinung des Greizer Architekten Matthias Hamann falsch in Perspektive und Dimensionierung und vermitteln dem Betrachter eher ein abgemildertes Bild vom eigentlichen Ausmaß des drohenden städtebaulichen Desasters.
Sturheit der regierenden CDU wird offenbar: Einwände von SPD und Bürgerbewegungen wurden in alter Manier abgeschmettert. Wenn Einwände, dann von Fachleuten, heißt es. Die selbsternannten Spezialisten der Stadtverwaltung sehen jedenfalls keine Veranlassung, auf die ökologischen wie denkmalpflegerischen Bedenken einzugehen, und bezeichnen die Kritik als überzogen und nicht gerechtfertigt.
Das Projekt ist so ausgelegt, daß eine vierspurige Betonbrückenkonstruktion über die Weiße Elster in zwei Ausfallstraßen münden soll, in Richtung Plauen und in Richtung Gera. Hierbei ist eine konkrete Trassenführung für die Straße nach Plauen noch gar nicht festgelegt, jedoch kommt ein vierspuriger Ausbau aufgrund der Gelände- und Bebauungsvoraussetzungen nur schwerlich in Frage. Gleiches trifft für die Straße nach Gera zu, für deren Ausbau bis zur Ortslage Gommla würde nicht nur der komplette Grünzug der Straße, sondern auch eine Grünanlage sowie das ehemalige Hauptquartier des NKWD in Greiz, welches von den einst Verfolgten als Mahn- und Gedenkstätte vorgesehen war, plattgemacht. Für die Anbindung der Straße nach Plauen an die Brücke ist noch eine Linksabbiegerspur vorgesehen, so daß sich mit dem obendrein geplanten, aber völlig unnötigen betonierten Mittelstreifen eine Gesamtbreite von zirka 27 Metern ergibt – breiter als der Greizer Marktplatz.
Viele besorgte Bürger sind der Auffassung, daß ein solcher Brückenkoloß, der im gesamten Stadtbild keine Entsprechung hat, den sensiblen Bereich der Südfront der charakteristischen Silhouette von Unterem Schloß, Stadtkirche und Gymnasium zerstören würde und eine nicht wieder gutzumachende Entstellung dieses städtebaulichen Ensembles darstelle.
Mit Sicherheit erscheint der großzügige Ausbau fraglich, da, wie erwähnt, die angemessene Dimensionierung der Zubringer nahezu unmöglich ist. Hinzu kommt, daß die Mitarbeiter des Stadtbauamtes selbst einräumen, daß es sich in erster Linie wirklich nicht um Durchgangsverkehr handelt. An dieser Stelle muß doch die Frage erlaubt sein danach, ob es nicht auch eine zweispurige Brücke tun würde.
Der Bürger bringt Argumente à la: »Pkws und Lkws beleben deutsche Straßen« und hat »ehrlich gesagt ganz andere Sorgen«. Gewiß, mit neun Prozent Arbeitslosenrate ist der Landkreis Greiz Spitze auf dem Gebiet des ehemaligen Bezirkes Gera. Das betuliche Treiben der Stadtoberen mutet so an, als wolle man partout ein Symbol dafür schaffen, daß in der Region doch etwas passiert. Außer gutem Zuspruch und ABM ist den Beschäftigten der bankrotten Textilindustrie nichts beschert worden, Einkaufsstraßen verwaisen angesichts ungeklärter Eigentumsverhältnisse an den Gebäuden mehr, als daß sie sich beleben.
Der zuständige Rechtsträger für den Straßenbau, das BDS Thüringen mit Sitz in Gera, hat jedenfalls den Darmstädter Architekten Jux mit der Projektierung der Brücke beauftragt, nachdem die Stadtverordnetenversammlung am 14. Mai den Antrag des Bürgermeisters abgesegnet hatte. Baubeginn soll Oktober 1991 sein, die Fertigstellung in voraussichtlich zwei Jahren.