Als Ertrag dieser Debatte kann festgehalten werden, dass einseitige Zuschreibungen und Kontextualisierungen nicht angemessen sind; die primäre und inhaltlich prägende sprachliche Verwurzelung der Glaubensterminologie ist im Judentum zu suchen, eine sekundäre in der pagan-hellenistischen Sprachwelt. Neuerdings wird noch ein dritter Kontext zur Erhellung der paulinischen Rede vom Glauben herangezogen, »einer, der, über den Aspekt rein sprach- und traditionsgeschichtlicher Einflüsse hinausgehend, die Dimension soziokultureller Konventionen sowie politischer Machtstrukturen und Interessen mit ins Kalkül zieht« – nämlich der Kontext der imperialen römischen Kultur.85 »Angesichts der enormen Bedeutung der fides in der römischen Politik, Kultur und Gesellschaft« votiert beispielsweise Christian Strecker dafür, »sie als wichtigen Kontext bzw. Verstehenshorizont der pistis-Aussagen |26| des im Imperium Romanum wirkenden Paulus mit zu berücksichtigen«.86 Er geht davon aus, dass Bedeutungsmomente der römischen fides umfassend auf die griechische pistis übertragen wurden und dass die häufig behauptete Unvereinbarkeit zwischen beiden Konzepten nicht aufrechterhalten werden kann.
Welche inhaltlichen und sprachlich-formalen Linien nun sowohl aus den jüdischen wie auch aus nichtjüdischen griechischen, hellenistischen und römischen Texten und Vorstellungen zur Glaubensterminologie des Paulus zu ziehen sind, soll in den einzelnen Kapiteln unter der Überschrift »Verstehenshorizont« exemplarisch erörtert werden. Die Art und Weise, wie Paulus vom Glauben spricht, scheint dabei eine gewisse Einseitigkeit der These zu relativieren, derzufolge alles, was »an bleibenden ›paganen Einflüssen‹ im frühen Urchristentum vermutet wurde, […] durchweg auf jüdische Vermittlung zurückgehen« kann.87 Vielmehr haben die ersten Christen sprachliche und kulturelle Gräben auch dadurch überbrückt, dass sie in ihrem missionarischen und didaktischen Wirken direkt auf das zeitgenössische kulturelle und semantische Repertoire zurückgegriffen, es kreativ weiterentwickelt und adressatenspezifisch angewandt haben – auch und gerade im Blick auf den Glauben. Bei allem Verbindenden bleibt jedoch ein »eklatantes ›Mehr‹« des frühchristlichen Redens vom Glauben, das weder aus dem Judentum noch aus dem Hellenismus noch aus der römischen Herrschaftsideologie abgeleitet werden kann.88
|27| 2. Glaube als Identitätskriterium einer Gemeinschaft
Forschungsgeschichte
Schon Adolf Schlatter hob hervor, dass der Glaube Unterscheidungsmerkmal und Identitätsbegriff ist: Der Glaube hob sich »als das hervor, was den Unterschied zwischen denen macht, die in, und denen, die außer der Gemeinde sind. Nicht als die Genossenschaft der Hoffenden oder Liebenden oder Wissenden, sondern als die der Glaubenden trat sie [sc. die Gemeinde] auf.«89 Schlatters Formulierung erinnert an zentrale Aussagen der sogenannte »New Perspective on Paul«, die freilich andere Exegeten als Schlatter zu ihren Wegbereitern zählt (z. B. Albert Schweitzer). Die v. a. in der angelsächsischen Exegese verbreitete neue Sicht auf Paulus weist mit Nachdruck auf die soziologischen Voraussetzungen und Implikationen der paulinischen Lehre von der »Rechtfertigung aus Glauben« hin. Sie tut dies in Abgrenzung zu einer vermeintlich anthropozentrischen und antijüdischen Paulusinterpretation, die ihren Ausgangspunkt bei Augustin nehme und über Luthers Frage nach dem individuellen Heil in Bultmanns existentialer Hermeneutik kulminiere.
So polemisierte Krister Stendahl scharf gegen die Innerlichkeit und Introspektive der westlichen Geistesgeschichte seit Augustin und bezeichnet sie als »Western plague«90. Paulus’ Rechtfertigungslehre sei keine Polemik gegen jüdische Werkgerechtigkeit, sondern diene lediglich seiner Absicht, den Heiden Zugang zum Gottesvolk zu ermöglichen. Nach E. P. Sanders zeichnet sich die paulinische Theologie durch zwei Komponenten aus: das »Heidenproblem« und »Ausschließlichkeit der […] Soteriologie«; sie »sind für die Entthronung des Gesetzes verantwortlich«.91 Die Logik der paulinischen Soteriologie habe auch soziologische Konsequenzen: »Wenn das Heil nur in Christus kommt, darf niemand einem anderen, wie auch immer beschaffenen Heilsweg folgen.«92 Der Glaube an Christus ist der neue Heilsweg; allein die Zugehörigkeit zu Christus verschafft Heil. James Dunn, auf den der Begriff »New Perspective on Paul« zurückgeht, hält fest, dass Paulus seine Aussagen zur Rechtfertigung aus Glauben aus der Sicht der Heidenmission getroffen habe. Im Zentrum paulinischer Theologie liege die Frage, ob und wie Heiden |28| von Gott angenommen werden können – und die Überzeugung, dass Gottes Gerechtigkeit allen zuteilwird, die glauben. Paulus gehe es in seiner Verkündigung um nichts weniger, als die Schranken zwischen Juden und Heiden zu durchbrechen.93 Die in der jüdischen Frömmigkeit und Identität zutiefst verwurzelte Auffassung von der exklusiven Erwählung Israels äußert sich nach Dunn insbesondere im Halten der Gebote, die jüdische Prärogative verbürgen: Beschneidung, Speisehalacha und Sabbatobservanz. Paulus kritisiere diese »identity markers« jedoch nur dann, wenn sie sich gegen Gottes Gnade stellten, was in Galatien der Fall gewesen sei. Erst so sei es zur theologisch wie soziologisch bedeutungsvollen Antithese von »Glaube« und »Gesetzeswerken« gekommen.94
Zu der Frage, in welchem Verhältnis die frühchristlichen Gemeinden zur jüdischen Gemeinde standen, sind zunächst zwei sich prinzipiell ausschließende Meinungen zu nennen: Einerseits steht die These im Raum, dass die ersten Christen gänzlich unter der Autorität der Synagoge geblieben seien und dass Paulus von einer untrennbaren Verknüpfung zwischen dem Christusglauben und der Verpflichtung zur Halacha ausging.95 Demgegenüber halten andere dafür, dass Paulus seine Leser zu einem finalen Bruch mit der jüdischen Gemeinschaft aufgerufen und die christliche Reformbewegung bewusst in eine »Sekte« umgeformt habe, deren Ethos durch den Glauben definiert sei.96
Die Mehrheit der Forscher nimmt jedoch an, dass Paulus weder die Heidenchristen unter das Dach der Synagoge ziehen noch deren Abspaltung von der Synagoge provozieren wollte. Zwar verstand sich Paulus bis zuletzt als »Hebräer von Hebräern« und kämpfte »rastlos für die Einheit von Juden- und Heidenchristen«; doch die »fundamentale Relativierung von Elementen, die der überwiegenden Mehrheit seiner jüdischen Zeitgenossen unaufgebbar erschienen« führte dazu, dass er »vielleicht am meisten dazu beigetragen [hat], dass es zur Trennung zwischen der immer mehr heidenchristlichen Kirche und dem Judentum kam«.97 Das Christusereignis verschob das bisher gültige Koordinatensystem: Nunmehr kommt dem Glauben allein die entscheidende soteriologische und ekklesiologische Bedeutung zu.
Zu einem entsprechenden Ergebnis gelangt auch Axel von Dobbeler, der in dezidierter Abwendung von Bultmann und noch unbeeinflusst von der neuen Paulusperspektive eine »Ekklesiologie des Glaubens« entwirft: »Pistis |29| ist für Paulus ein zentrales Kennzeichen der christlichen Gemeinden, das Abgrenzung sowohl gegenüber Heiden, als auch gegenüber Juden ermöglicht, der Gruppe ihre Identität verleiht und so deren wesentlicher Stabilisationsfaktor ist.«98 Es handle sich bei der »pistis nicht um ein neues Selbstverständnis, sondern um ein neues Gruppen- bzw. Gemeinschaftsverhältnis der vor Gott (im Blick auf Erwählung und Gerechtigkeit) Gleichgestellten«.99
Exegese
Die ekklesiologische Eigenart des Glaubens liegt in seiner (exklusiven) Ausrichtung auf Jesus Christus begründet, welche eine Identität stiftet, »die alle alltagsweltlichen Status- und Ethosdifferenzen hinter sich lässt«, und »eine Gemeinsamkeit herstellt, die die Differenz zwischen Juden und Heiden umgreift […] und die Christen von den nichtchristlichen Juden und Heiden signifikant unterscheidet«.100 Schon in seinem ersten Brief bezeichnet Paulus die Christen mithilfe eines absoluten Partizips als »die Glaubenden« (1Thess 1,7; 2,10.13). Diesen Sprachgebrauch behält er auch in den folgenden Briefen bei. »Das Wort Glaube bekommt […] besonders in seinen Partizipialformen […] eine ekklesiologische Funktion, was sprachgeschichtlich die spätere Verbreitung des Begriffs zu einem Synonym für Religion vorbereitet, aber keineswegs schon vorwegnimmt.«101
Die Frage, ob die Zulassung der Heiden(christen) zum endzeitlichen Gottesvolk von der Einhaltung der Gebote abhängig zu machen oder ob der Glaube alleiniges Kriterium sei, stellte sich der urchristlichen Mission, sobald sie sich den »Völkern« zuwandte (vgl. Röm 1,16: »zuerst den Juden, dann den Griechen«). Dabei scheint schon früh eine beschneidungsfreie Heidenmission praktiziert worden zu sein (vgl. Apg 10,1–11,18); wie