Rudolf Bultmann spricht zu Recht von zwei verschiedenen Perspektiven, die man bei der Analyse des Glaubens beachten muss: »Es ist zu unterscheiden, ob man vom menschlichen Gesichtspunkt oder vom Gesichtspunkt des Glaubens über die pistis Aussagen macht. Vom Menschen her gesehen ist der |18| Glaube ein Akt des Willens, eine Entscheidung, die Annahme der Einladung Gottes. Vom Gesichtspunkt des Glaubens aus ist der Glaube ein Geschenk Gottes.«37 Wenngleich man sich mit seiner ausschließlichen Verortung des Glaubens im Bereich des Willens nicht zufriedengeben kann, so lenkt er die Aufmerksamkeit doch auf eine notwendige Unterscheidung. Je nach Perspektive kommt man zu voneinander abweichenden Aussagen.
Stellt man sich auf den anthropologischen Standpunkt, dann erscheint der Glaube als eine Erkenntnisweise oder Bewusstseinsprägung mit unterschiedlicher inhaltlicher Füllung. Adolf Schlatter formuliert in der Einleitung seiner Monographie: »Glaube ist ein inneres Geschehn« und kann als solches »vom übrigen seelischen Geschehen abgegrenzt und fixiert werden.«38 Die Frage, ob bzw. wie sich das Glaubensgeschehen von den (anderen) seelischen Vorgängen abhebt oder ob es in (einem von) ihnen aufgeht, wird verschieden beantwortet.
Wie schon ihr Aufbau nahelegt, überprüft die vorliegende Studie anhand der Paulustexte folgende Aussage: »Der anthropologische Ort des Glaubens kann also nicht in einem der Seelenvermögen, sondern nur in deren Gesamtzusammenhang gesucht werden. D. h., als anthropologischer Ort des Glaubens kommt nur die Dreiheit von Gefühl, Vernunft und Wille in ihrer gegenseitigen Durchdringung und in der damit gegebenen (zirkulären) Einheit in Frage.«39 Die Gefahr dieses Zugangs liegt freilich in einer psychologisierenden, intellektualisierenden oder voluntativen Engführung des Glaubensbegriffes – also darin, dass es zu einem anthropologischen »Missverständnis« kommt.40 Davor warnt auch Gerhard Ebeling, wenn er feststellt: »Der Glaube betrifft viel radikaler den Menschen, als dass er, wie man es bei jener schlechten Psychologisierung des Glaubens meint, seinen Ort hätte in irgendwelchen partiellen und sekundären Schichten seines Wesens, in irgendwelchen Fähigkeiten des Menschen wie Erkenntnisvermögen oder Wille oder Gefühl.«41
Diesem Missverständnis kann man begegnen, indem man den Glauben vom »Standpunkt des Glaubens« und damit vom Christusgeschehen her denkt. Aus einer solchen Betrachtungsweise sind dezidiert theologische Aussagen zu erwarten wie: »Der Glaube hat keine Geschichte, wohl aber bestimmt er Geschichte.«42 |19| Oder in den drastischen Worten Johann Georg Hamanns: »Glaube ist nicht jedermanns Ding, und auch nicht communicable wie eine Ware, sondern das Himmelreich und die Hölle in uns.«43 Dieser Ansatz birgt die Gefahr, den Glauben der Wirklichkeit und der Welt zu entheben und ihn abzukoppeln von erkenntnistheoretischen, hermeneutischen oder humanwissenschaftlichen Annäherungen. Das Gespräch über den Glauben wird so zum Binnendiskurs aus der Theologie für die Theologie und geht Gesprächspartnern aus anderen Diskursen verlustig.
Es kann nicht sinnvoll sein, die Betrachtung des Glaubens auf einen der beiden Standpunkte zu reduzieren. Der Glaube ist eine anthropologische Kategorie, geht in dieser Bestimmung aber keineswegs auf. Er ist nicht jenseits von allgemein-menschlichen Konstanten zu beschreiben, aber zugleich markiert er einen qualitativen Sprung, der wie im Fall des Paulus zu einer »rigorosen Umwertung aller bisherigen Werte und Ideale (Phil 3,7–11)« führen kann.44 Es wird sich zeigen, dass auch Paulus in seiner Rede vom Glauben immer zugleich vom Menschen und von Gott her denkt.
Bultmanns existentiale Interpretation richtet sich ganz auf das gläubige Subjekt und räumt der Welt- und Heilsgeschichte lediglich eine Randstellung ein: »Die entscheidende Geschichte ist nicht die Weltgeschichte, die Geschichte Israels und der anderen Völker, sondern die Geschichte, die jeder Einzelne selbst erfährt.«45 Damit ist aber, was die pistis angeht, »eine radikale Individualisierung gesetzt: Die Botschaft trifft den Einzelnen und isoliert ihn.« »Der Glaube führt in die Vereinzelung.«46 Diese Linie kann bis in die autobiographischen »Bekenntnisse« Augustins zurückverfolgt werden, welcher Gott preist für »meinen Glauben, den du mir gegeben hast«.47 Im Gegensatz dazu stehen beispielsweise die Erwägungen Karl Barths zum Individualismus eines solchen »Ich-Glaubens.« Er kritisiert, »dass der Christ in den letzten Jahrhunderten (auf dem weiten Weg vom alten Pietismus bis hin zu dem an Kierkegaard sich inspirierenden theologischen Existentialismus der Gegenwart) begonnen hat, sich selbst in einer Weise ernst zu nehmen, die dem Ernst des Christentums durchaus nicht angemessen ist«.48 Schon früh zeichnete sich der Dissens zwischen Bultmann und Barth in dieser Frage ab. In seinem Römerbriefkommentar schreibt Barth: »Nirgends ist er [sc. der |20| Glaube] identisch mit der historischen und psychologischen Anschaulichkeit des religiösen Erlebnisses. Nirgends reiht er sich ein in die kontinuierliche Entwicklung menschlichen Seins, Habens und Tuns.«49 Bultmann entgegnet, dass Barth die Paradoxie des Glaubens überspanne: »Ist der Glaube, wenn er von jedem seelischen Vorgang geschieden, wenn er jenseits des Bewusstseins ist, überhaupt noch etwas Wirkliches? Ist nicht das ganze Reden von diesem Glauben eine Spekulation, und zwar eine absurde? Was soll das Reden von meinem ›Ich‹, das nie mein Ich ist? Was soll dieser Glaube, von dem ich höchstens glauben kann, dass ich ihn habe?«50
Ein erster exegetischer Ansatz, diesen scheinbar unvereinbaren Positionen zu begegnen, liegt darin, den Blick auf einige sprachliche Besonderheiten in Paulus’ Rede vom Glauben zu lenken. Ernst Lohmeyer stellt zu Recht fest, dass »ein merkwürdiger Sprachgebrauch […] die paulinischen Gedanken über den Glauben« kennzeichnet.51 Zunächst sticht die Dominanz des Substantivs »Glaube« gegenüber dem Verb »glauben« heraus. Sodann fällt auf, dass das Nomen »Glaube« meist absolut bzw. in Verbindung mit »Christus« steht und recht selten mit Possessivpronomen erscheint: »sein Glaube« findet sich nur in Bezug auf Abraham (Röm 4,5.12.16), einmal äußert Paulus den Wunsch, »in eurer Mitte gemeinsam mit euch ermutigt zu werden durch unseren gemeinsamen Glauben, den euren wie den meinen« (Röm 1,12), und an einer weiteren Stelle erwähnt er den Glauben, den Philemon hat (»dein Glaube«, Phlm 5–6); häufiger verweist Paulus auf »unseren Glauben«. Was das Verb angeht, sagt Paulus an keiner Stelle »ich glaube«.52 In all dem drückt sich eine Tendenz aus, den Glauben nicht zu beschränken auf eine individuelle »Tat und Gesinnung des Herzens«53. Gleichwohl ist das »Ich« des Glaubens deutlich im Blick, und zwar vor allem dort, wo Paulus den Einzelnen in die Gemeinschaft der »Glaubenden«54 stellt und sich selbst in diese Gemeinschaft einreiht (»unser Glaube«55, »wir glauben« bzw. »wir kamen zum Glauben«56). |21| Ferner ist zu denken an die Wendungen »jeder, der glaubt«57 bzw. »alle, die glauben«58 und »der, der aus Glauben ist«59 bzw. »die, die aus Glauben sind«60.
Schon allein der Sprachgebrauch macht deutlich, dass keine Rede sein kann von einer »isolierenden« Auffassung des Glaubens bei Paulus. Ebenso wenig bleibt der Glaube auf ein paradoxes »Ich glaube, dass ich glaube« reduziert. Vielmehr vereint der paulinische Glaubensbegriff drei grundlegende Perspektiven: Er ist vom Einzelnen zu vollziehender Lebensakt (subjektiv), Identität stiftendes Kennzeichen einer Gemeinschaft (intersubjektiv bzw. ekklesiologisch) und in seiner Verbindung zum Christusereignis heilsgeschichtliches Phänomen (transsubjektiv). Diese drei Dimensionen teilt sich sein Glaubensbegriff mit seinem Versöhnungsgedanken (vgl. nur