Man kann sogar zu Recht von einer »explosionsartigen Steigerung«2 des Redens vom Glauben im Neuen Testament sprechen. Verb (pisteuein) und Nomen (pistis) begegnen je 243-mal.3 Diese statistische Häufung ist beachtlich, und wenn sie auch per se noch keine theologische Aussagekraft besitzt, ist sie doch Indiz dafür, dass »Glaube« »im Neuen Testament, und zwar in allen seinen Schichten, […] zum schlechthin zentralen Begriff«4 und »zur beherrschenden Bezeichnung«5 des Verhältnisses des Menschen zu Gott geworden ist. Gerhard Ebeling stellt fest: »Würde man aus dem neutestamentlichen Gesamtvokabular diejenigen Wörter zusammenstellen, die trotz des von Schrift zu Schrift wechselnden Sprachbefundes allen Schichten des neutestamentlichen Schrifttums als tragende Begriffe angehören, so würde dabei pisteuein usw. mit an erster Stelle stehen.«6
Auch die Briefe des Paulus fügen sich in diesen Befund ein, nur dass bei ihm das Übergewicht des Nomens sogleich ins Auge fällt: Das Verbum pisteuein |10| verwendet er 42-mal, das Nomen pistis dagegen 91-mal.7 Die Exegese einer Auswahl der pistis/pisteuein-Belege wird zeigen, dass Paulus damit eine wichtige – wenn nicht sogar »die wichtigste«8 – theologische Aussage machte und dass er den Begriff pistis »in den Mittelpunkt der Theologie« stellte.9
Die überragende Bedeutung, die dem Glaubensbegriff in der Geschichte des Christentums zukommt, führt dazu, dass er »überfrachtet« zu werden droht, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen besteht aus linguistischer Perspektive die Gefahr, dass ein unsachgemäßer »Totalitätstransfer«10 vollzogen wird, bei dem die Bedeutungsvielfalt eines Wortes auf die einzelnen Belegstellen übertragen wird. Um den »Glaubensbegriff« des Paulus zu bestimmen, werden – vereinfacht gesagt – die einzelnen Aspekte und Nuancen des Wortes pistis gesammelt und in einem zweiten Schritt wieder auf alle Belege aufgeladen. Das heißt nun nicht, dass im Gegenzug lediglich verschiedene Bedeutungen aneinanderzureihen sind; vielmehr sollen die einzelnen Stellen in ihrem jeweiligen Kontext gehört und ihre Aussageabsicht herausgearbeitet werden.
Ein zweiter Hinweis ist im Blick auf die Bedeutungsgeschichte des Glaubens angebracht. Die Tatsache, dass die Texte des Paulus die Geschichte der westlichen Kultur und Sprache entscheidend geprägt haben, kann dazu verleiten, die verschiedenen Stationen der semantischen Geschichte des Glaubens auf die Belege bei Paulus zu übertragen. Der heutige, religiös-kirchlich geläufige Begriff des Glaubens, der ja Teil der paulinischen Wirkungsgeschichte ist, gleicht »einem Esel, dem man einen Möbelwagen aufgeladen hat und noch immer wieder auflädt. […] ›Glaube‹ wurde identisch mit ›Christentum‹, ja mit ›Religion‹ überhaupt.«11 Hinzu kommen alltagssprachlich vertraute Verwendungsweisen und Vorverständnisse von »glauben«, durch welche die Umrisse des Bedeutungsfeldes im Laufe der Zeit immer verschwommener und durchlässiger wurden. Diese finden in den folgenden sprachlichen Wendungen ihren Ausdruck12:|11|
»ich glaube, dass … bzw. etwas« (doxastisches Fürwahrhalten)
»ich glaube jemandem« (fiduziales Vertrauenschenken)
»ich glaube an jemanden« (personales Sichverlassen)
Um ein sachgemäßes Verständnis vom Glaubensbegriff des Paulus zu gewinnen, kann man nicht von den religiös und alltagssprachlich geläufigen Verwendungstypen ausgehen. Die Fragen »Was heißt Glaube?« und »Was heißt Glaube bei Paulus?« sind methodisch auseinanderzuhalten. Und dennoch gehören beide Fragen zusammen, eben weil die Glaubenstexte des Völkerapostels mit dem Glaubensverständnis und der Glaubensgeschichte unserer Kultur aufs Engste verknüpft sind, ja »zur Grundinformation der menschlichen Geschichte« gehören.13
Die Geschichte (der Erforschung) des Glaubensbegriffes hat nun aber neben einer Überfrachtung auch eine unpaulinische Reduktion auf eine subjektive Haltung bzw. individuelle Disposition zur Folge gehabt. Daher wird (in Kapitel 2) die soziologische bzw. ekklesiologische Dimension als eine erste grundlegende Perspektive auf die paulinische Auffassung vom Glauben hervorgehoben: Glaube ist konstitutiv für die christliche Identität und Kriterium für die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde.
Mit der Betonung der überindividuellen Dimension der paulinischen Rede vom Glauben kommt (in Kapitel 3) eine weitere und bislang in der Exegese recht wenig beachtete Perspektive in den Blick. Pistis ist bei Paulus auch eine von außen hereinbrechende und durch die Christusepiphanie begründete »göttliche Geschehenswirklichkeit«. Dieses Kapitel löst zugleich die wichtige Forderung ein, »methodisch von der christologisch-heilsgesch[ichtlichen] Dimension des G[laubens] auszugehen und erst dann dessen immer soteriologisch orientierte anthropologische Aspekte thematisch zu machen«.14
Das Ineinander von christologisch-heilsgeschichtlicher und anthropologischer Betrachtungsweise bleibt auch in den folgenden Argumentationsgängen (Kapitel 4–6) zentral, in welchen die paulinische Perspektive auf die Subjektivität des Glaubens zu erörtern ist. Wenn – wie auch hier vorausgesetzt wird – der Glaube »daseinsbestimmende Bedeutung für den Menschen hat […], so stellt sich die Frage, wie solcher […] Glaube anthropologisch zu verorten ist.«15 Es bietet sich an, für diese Frage der Anthropologie bzw. der Subjektivität des Glaubens die geläufige Dreigliedrigkeit der platonischen Seelenlehre zugrunde zu legen, die seit Kant und Schleiermacher weithin anerkannt |12| ist und davon ausgeht, dass im Menschen drei Fähigkeiten oder Antriebskräfte zusammenwirken: Vernunft, Wille und Gefühl. Mag sich Paulus auch an keiner Stelle explizit über das Verhältnis der menschlichen Seelenvermögen zum Glauben geäußert haben, so kann er dennoch als Urheber einer kulturell wie religiös äußerst bedeutsamen und vielfältigen Wirkungsgeschichte gelten. Wie kein anderes literarisches Erzeugnis haben seine Briefe die Auseinandersetzung mit den Problemkreisen »Glaube und Vernunft«, »Glaube und Wille« und »Glaube und Gefühl« hervorgerufen und geformt. Aus diesem Grund ist diesen drei Komplexen jeweils eine Exposition der Fragestellung in systematisch-theologischer Absicht vorangestellt. Freilich wird schnell deutlich, dass sich Paulus’ Rede vom Glauben gegen klare Abgrenzungen sträubt: Der Glaube geht in keiner der menschlichen Erkenntnisweisen auf; er findet nicht »getrennte Haushalte« im Innern des Menschen vor, sondern durchdringt Vernunft, Wille und Gefühl. Und er ist nicht als Summe der drei Erkenntnisweisen zureichend zu bestimmen, sondern weist aufgrund seines Offenbarungscharakters wesenhaft über diese hinaus.
Innerhalb der anthropologischen Betrachtungsweise des Glaubens verdient der Aspekt Beachtung, dass Glaube nicht aus sich selbst heraus existieren kann, sondern auf ein Gegenüber außerhalb seiner selbst angewiesen ist, das ihn begründet und erhält. Noch mehr: Der Glaube setzt das Individuum aus sich selbst heraus und schafft ein neues Beziehungsgefüge: »Nicht der Glaube gehört zum christlichen Individuum, sondern das christliche Individuum gehört zum Glauben.«16 Insofern ist dem Glaubensvorgang gar eine »ekstatische[ ] Struktur« eigen.17 Doch darf der externe und »ekstatische« Charakter des Glaubens wiederum nicht so verstanden werden, als sei er »seelenlos«; die Frage nach seinem Ort und Halt im Innenleben des Menschen – in seinem Denken, seinem Willen, seinem Gefühl – behält seine Berechtigung.
Der Begriff »Glaube« nimmt eine Reihe von einzelnen Bedeutungskomponenten in sich auf, die den menschlichen Seelenvermögen im Sinne einer ersten Annäherung zugeordnet werden können: »Glaube als Fürwahrhalten und Überzeugtsein«, »Glaube als Wissen und Bekennen« (Vernunft), »Glaube als Entscheidung und Gehorsam«, »Glaube als ›neuer Gehorsam‹ und Liebe« (Wille), »Glaube als ›mystisches‹ Erleben«, »Glaube als Vertrauen und Gewissheit« (Gefühl). Da zwischen diesen einzelnen Dimensionen ein innerer Zusammenhang besteht, lässt sich mitunter nicht klar abgrenzen, welche von ihnen den Ton trägt.
|13| Systematisch-theologische Einordnung
Zur Frage, wie sich eine exegetische Untersuchung zur systematischen Theologie verhalte, bemerkte Adolf Schlatter (1852–1938) lapidar: »Einer Geschichte der neutestamentlichen Begriffe, welche dieselben nur statistisch benennt und chronologisch einordnet, fehlt