Die Rubrik »Verstehenshorizont« trägt wichtigen Einsichten der kognitiven Semantik Rechnung, derzufolge nicht nur der unmittelbare literarische Kontext für die Bedeutung von Worten ausschlaggebend ist, sondern auch das sogenannte enzyklopädische Wissen, das durch Erfahrung und Lernen angeeignet wird und das Autor und Rezipienten (vermeintlich) teilen. Die Rede vom »Glauben« evoziert ein Geflecht von Vorstellungen, Bildern und Eindrücken, die eingebettet sind in ein spezifisches kulturelles Milieu und die dem Wort »Glaube« Bedeutung verleihen. Einem Text ist immer eine intertextuelle Qualität eigen, die der Autor eingeschränkt steuern kann, und er setzt umgekehrt eine intertextuelle Kompetenz seitens der Rezipienten voraus: »Kein einziger Text wird unabhängig von den Erfahrungen gelesen, die aus anderen Texten gewonnen wurden.«63 Dadurch wird die »Aktivität der Mitarbeit« gefordert, »durch die der Empfänger dazu veranlasst wird, einem Text das zu entnehmen, was dieser nicht sagt (aber voraussetzt, anspricht, beinhaltet und miteinbezieht), und dabei Leerräume aufzufüllen und das, was sich im Text befindet, mit dem intertextuellen Gewebe zu verknüpfen, aus |22| dem der Text entstanden ist und mit dem er sich wieder verbinden wird«.64 Solche Mitarbeit ist abhängig von einer überkulturellen Kernbedeutung eines Begriffs, vom sozialen und kulturellen Kontext sowie vom Bildungs- und Wissensstand und den Erfahrungen und Erwartungen der Rezipienten.
Paulus’ Rede vom Glauben ist eingebunden in ein »intertextuelles Gewebe«, und zunächst gilt für seinen Glaubensbegriff, was für alle zentralen Begriffe des paulinischen Denkens zutrifft: Sie haben »eine jüdische und eine griechische Geschichte, die es gleichermaßen zu erheben und zu berücksichtigen gilt«.65 Neben der Betrachtung der pagan-griechischen und alttestamentlich-jüdischen Geschichte des Glaubens bei Paulus ist auch eine Unterscheidung zu treffen zwischen seinen eigenen Sprachvoraussetzungen einerseits und dem Verstehenshorizont des Glaubensbegriffs bei seinen Adressaten andererseits. In welcher Vorstellungs- und Denkwelt gründet sein eigenes Denken und Reden vom Glauben und welche Assoziationen ergaben sich bei den Rezipienten seiner Briefe? Kommunikation wird dann als gelungen erlebt, wenn beide Akteure, Autor und Rezipient, einen gemeinsamen »geistigen Raum« finden, in dem sich Verständigung und Einverständnis ereignen; dabei ist neben individuellen Bewusstseinsstrukturen und kulturellen Prägungen auch die Sozialität der Akteure relevant, wenn Kommunikation nicht auf einen einzelnen Akt beschränkt bleibt, sondern Interaktion stattfindet. Paulus tauchte auf seinen Missionsreisen in verschiedene Sprach- und Kulturmilieus ein, trat intensiv in persönliche und schriftliche Kommunikationssituationen, ging schöpferisch mit dem kulturellen Repertoire seiner Adressaten um und verstand es, seine eigene kulturelle und geistige Prägung zu kontextualisieren. Nur durch eine auf solche Art praktizierte Inkulturation des Evangeliums bei zugleich reflektierter Adaption anderer Traditionen erreichte seine »Glaubensbotschaft« eine derart hohe Anschlussfähigkeit.
Paulus selbst gehörte zu einer jüdischen Gemeinschaft der Diaspora und besaß wohl römisches Bürgerrecht. Seine Griechischkenntnisse lassen darauf schließen, dass er seine jüdische Elementarausbildung in Tarsus erhalten hatte.66 Die theologische Ausbildung und weitere prägende Einflüsse empfing er in Jerusalem, im religiösen, nationalen und kulturellen Zentrum des Judentums.67 Der für seine Theologie und damit für sein Glaubensverständnis entscheidende Traditionshintergrund ist das Judentum. Auch und gerade in Paulus’ Rede vom Glauben macht sich das alttestamentlich-jüdische Erbe |23| geltend: Er schließt sich primär an den Sprachgebrauch der Septuaginta an, der griechischen Übersetzung des »Alten Testaments«, das in weiten Teilen des Urchristentums verwendet wurde. Zwischen dem hebräisch abgefassten Alten Testament und dessen griechischen Übersetzung besteht eine bemerkenswerte Kongruenz: »Die griechischen Wörter pistis und pisteuein sowie der ganze Stamm pist- entsprechen hier [sc. in der Septuaginta] mit ungewöhnlicher Konstanz Wörtern vom hebräischen und aramäischen Stamm ’mn, zu dem auch das bis in unsere liturgische Sprache reichende Amen gehört.«68 Die Grundbedeutung des Stammes ’mn wirkte über die griechische Übersetzung und durch sie hindurch auf den Sprachgebrauch des Neuen Testaments ein: »Glauben heißt im Hebräischen ›sich fest machen in Jahwe‹«69 und meint die »Betätigung der innerlichen Festigkeit durch Zuversicht und Vertrauen«70; wer glaubt, gewinnt eine »feste Beständigkeit«71.
Doch eine exklusive Herleitung aus dem Alten Testament im Sinne eines bruchlosen und kontinuierlichen Sich-Entfaltens wäre nicht zutreffend: Während das Gottesverhältnis dort mit einer Reihe weiterer Wörter bezeichnet wird, entwickelt sich der Glaube im frühen Christentum zur wesentlichen und umfassenden Bezeichnung für das Gottesverhältnis. Dieses analogielose Phänomen ist nicht zuletzt auf Paulus zurückzuführen, der an zentralen Argumentationsgängen im Römer- und Galaterbrief eine prominente alttestamentliche Belegstelle zum Glauben herausgreift – Gen 15,6 – und so mittels einer »Wesensbeschreibung des Glaubens Abrahams«72 zu einer fassbaren und äußerst wirkungsvollen Beschreibung seines Glaubensverständnisses gelangt. Doch spiegelt sich selbst im Rekurs auf die Gestalt des Abraham ein zweites charakteristisches Unterscheidungsmerkmal zum alttestamentlich-jüdischen Umfeld wider: Glaube steht für Paulus nicht nur für die umfassende Bezeichnung der Gottesbeziehung, sondern ist zugleich unlösbar auf Jesus Christus bezogen: »Der Glaube ist, was er ist, weil es Christus gibt.«73 Von dieser Neubestimmung des Glaubens aus erklärt sich die eigenständige Weiterentwicklung des Glaubensbegriffs im frühen Christentum. Sie wird schon formal greifbar in der erstaunlichen Häufigkeit der Belege wie auch in neuartigen präpositionalen Konstruktionen wie »glauben an/in« oder in der Genitivverbindung »Christusglaube«, die durchweg in Bezug auf Christus Verwendung |24| finden.74 Daneben fällt die Selbstverständlichkeit auf, mit der Paulus vom Glauben spricht, scheinbar ohne sich zu einer näheren Definition oder Begriffsklärung genötigt zu fühlen. Man hat vermutet, dass die Wurzeln seines Sprachgebrauchs nach Antiochien weisen; in der dortigen hellenistisch-jüdisch geprägten Gemeinde seien die Grundlagen für das Verständnis und den kreativen Umgang mit dieser Terminologie vorhanden gewesen.75 Trifft diese Vermutung zu, ist zu erwarten, dass das kulturelle Milieu dieses »melting pot« sich ebenfalls auf das semantische Repertoire der Glaubensterminologie auswirkte, zusätzliche Nuancen eintrug und zur Beweglichkeit und Polyphonie der Rede vom Glauben bei Paulus beisteuerte.
Damit eröffnet sich ein weiterer Problemkreis, der zu einer beachtenswerten wissenschaftlichen Debatte führte: Wie wurde der Stamm pist- in der pagan-griechischen Sprachwelt außerhalb des Judentums verwendet? Gibt es Texte aus vorchristlicher Zeit, die unbeeinflusst von jüdischem Denken das Gottesverhältnis mit diesem Wortfeld umschreiben? Falls ja: Findet dieser Sprachgebrauch einen Widerhall in den neutestamentlichen Schriften, in den Briefen des Paulus? Lange Zeit war Richard Reitzensteins Urteil unangefochten, dass pistis ein »Schlagwort der Propaganda treibenden Religionen« war und das Christentum darum sowohl an jüdische wie pagane Missionstätigkeit und Propaganda anknüpfen konnte.76 Gestützt hat Reitzenstein seine Behauptung durch »ein paar rasch zusammengeraffte Beispiele«77. Dieser zunächst spärlich belegten, aber fast schon kanonisch gewordenen These der Religionsgeschichtlichen Schule hat seit den 1970er Jahren Dieter Lührmann in einer Reihe von Veröffentlichungen vehement widersprochen. »Glaube« sei nicht im allgemeinen religiösen Sprachgebrauch der damaligen Zeit zu finden und keinesfalls eine verbreitete Kategorie der Religionsphänomenologie im Umfeld der frühen Christenheit. In der nichtjüdischen hellenistischen Literatur gebe es keinen religiösen Gebrauch des Stammes pist-, und die zum Beleg der genannten religionsgeschichtlichen These angeführten Verweisstellen seien – sofern sie überhaupt vom »Glauben« redeten – allesamt beeinflusst von der jüdisch-christlichen Sprachtradition. Pistis und pisteuein sind für Lührmann also Worthüllen, die ihre inhaltliche Füllung ausschließlich |25| dem Hebräischen zu verdanken haben, sprachgeschichtlich vermittelt v. a. durch Jesus Sirach und Philo. Sie seien also schlicht »Bedeutungslehnwörter«78 und zudem »Begriffe des internen Sprachgebrauchs«79, die »in der Sprache der Mission […], im Judentum wie im Christentum« nicht angesiedelt seien.80
Nachdem Lührmanns Gegenentwurf zunächst zustimmend aufgenommen worden war,81 konnte er sich in der Folgezeit aufgrund von neu beigebrachten Belegen aus dem hellenistischen Schrifttum nicht mehr in der vorgetragenen Zuspitzung halten.82 Religiöser Gebrauch von pistis war auch im nichtjüdischen Hellenismus verbreitet und geläufig83 und nicht auf eine interne jüdisch-christliche Verwendung beschränkt. Insbesondere Plutarch (ca. 45–125 n. Chr.), Zeitgenosse des Paulus, Philosoph