Unsinn, würde ihre alte Gefährtin Azuka sagen, ein schwacher Mann muss sich erst recht selbst beweisen. Wenn er seine Arbeit nicht schafft, will er zumindest die Macht über eine Frau spüren. Ein starker Mann hat das nicht nötig, er ist sich seiner selbst sicher.
Ife ermahnte sich auf den Weg zu achten. Sie erkannte nichts wieder, aber sie folgten auch nicht dem gewundenen Flusslauf, wie es Ife getan hatte. Sie versuchte, sich Dinge zu merken, die Brettwurzeln eines Baumes, die im rechten Winkel standen, als ob sich jemand hätte eine Hütte zimmern wollen, oder ein Gesicht im Geflecht der Lianen. Doch all das war trügerisch, waren diese Stellen doch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet oft unsichtbar. Hätte sie nur fliegen können wie die Geier, sie hätte sich einfach an den Kronen der höchsten Bäume orientiert.
Am Abend stolperte Ife fast nur noch über ihre eigenen Füße. Plötzlich blieb ihr Begleiter stehen und bedeutete ihr, dass sie ihr Nachtlager aufschlagen würden. Als sie ihre Matten in die Bäume hängten, standen sie sich zum ersten Mal an diesem Tag gegenüber. Ife war erstaunt, wie fremd ihr das Gesicht war, nachdem sie sich mit dem Rücken schon so vertraut gemacht hatte. Er hatte eine hohe und senkrechte Stirn, über der sich die Haare ausmachten wie eine ausladende Baumkrone. Seine Nasenflügel waren flach und weit und trafen sich in der Mitte zu einer kleinen Spitze. Die Augen lagen hingegen ungewöhnlich dicht zusammen.
Um das Schweigen zu brechen, fragte Ife: »Woher kommst du?«
»Santa Elena, vor zwei Regenzeiten.«
Ife sagte der Name nichts. Der Ort musste jenseits der Grenze liegen.
»Frau? Kinder?«, fragte Ife, weil es zu dem Wenigen gehörte, das ihr in seiner Sprache einfiel.
Er schüttelte den Kopf. »Frau«, sagte er und machte eine Handbewegung entlang des Halses, »in Santa Elena, ich bin weg.«
Ife wusste nicht, wie sie ihn fragen sollte, ob die Frau ermordet oder an einer Krankheit gestorben war. Sie sah ihn mitleidig an.
»Kinder?«, fragte Ife noch einmal.
»Eins.«
»Frau hier?« Sie deutete mit dem Kopf in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Er sah sie etwas irritiert an, als ob er die Frage nicht verstünde.
»Frauen unten, Männer oben«, sagte er. »Wir leben nicht zusammen.«
Das hatte ihr auch schon Marta erzählt. Dennoch hatte Marta von ihrem Mann gesprochen.
»Dein Kind, wie heißt es?«
»Libertad.«
Libertad war ein kleines Mädchen mit einer lustigen Nase, das gerade seine ersten Stehversuche machte, wenn es nicht von der Mutter – oder der Frau, die Ife für ihre Mutter hielt – auf dem Rücken getragen wurde. Sie war eine hochgewachsene Frau, deren schmales Gesicht an einen Ameisenbär erinnerte. Ihr Name fiel Ife nicht ein. Sie gab Libertad noch die Brust, und sie kümmerte sich um keine weiteren Kinder. Ife wollte verstehen, wie die Männer und Frauen im Wald zusammenlebten, welche Regeln es zwischen ihnen gab. Weil sie so wenig redeten, und weil Ife viele Worte fehlten, wusste sie noch immer viel zu wenig. Auch jetzt wusste sie nicht, wie sie fragen sollte.
»Was ist?«, fragte Gabriel auf einmal. Sie musste ihn wohl angestarrt haben. Ife fürchtete, er könnte ihren Blick falsch verstehen.
»Nichts. Ich bin einfach müde.«
»Du gehst zwei Stunden geradeaus«, sagte Gabriel am nächsten Morgen, dann war er im Wald verschwunden, und kein noch so leises Knacken verriet, wohin er seine Schritte lenkte. Ifes Herz schlug ihr bis zum Hals, so heftig, dass ihr übel wurde. Sie dachte daran, wie die frühe Morgensonne die Hütten von Sugar Creek in einen rosafarbenen Dunst tauchte, wie eine scheppernde Glocke die milchige Stille zerriss, wie sich daran das vielstimmige Geschrei der Aufseher anschloss, wenn sie die Sklaven in Arbeitsgangs aufteilten und sie aufs Feld oder in die Siederei trieben. Die Erntezeit musste inzwischen zu Ende sein. Auf den Feldern wurden jetzt die Stummel der alten Pflanzen, die nicht mehr gut waren, herausgezogen und der Boden für neue Setzlinge aufgehackt.
Ife sah Azuka und Elise vor sich, wie sie ihre in langen zerfetzten Röcken steckenden Hüften dem Himmel und die Köpfe dem Boden zuwandten. Den lieben langen Tag standen sie so, rückten Meter um Meter vor und waren am Abend so krumm und unfähig sich aufzurichten wie die alte Coba. Noch im letzten Jahr hatte Ife in der Reihe neben ihnen gestanden. Manchmal stimmten sie einen Gesang an, doch die Töne wurden von den Pflanzlöchern im Boden verschluckt.
Ife lauschte nun aufmerksam, ob der Sugar Creek schon zu hören war. Sie wollte seinem Lauf folgen und beim Quartier der Sklaven kreuzen. Sie wollte sich in Cobas Hütte zwängen und sie in Gedanken rufen. Coba hatte bisher immer ihre stummen Rufe gehört. Sie wollte Coba Adjoas Gaben überreichen, sich alles erzählen lassen, was auf der Plantage geschehen war und sich von Coba das Abendessen bringen lassen, das für die Kranken bestimmt war. Schon am Abend wollte sie wieder im Wald verschwinden. Sie würde weder nach Azuka und Elise noch nach John suchen. Je schneller sie wieder verschwand, desto besser war es für alle.
Sie ging geräuschlos und hielt dennoch immer wieder inne, um noch besser lauschen zu können. Eigentlich sollte außer den Tieren niemand hier sein. Die Sklaven durften nicht in den Wald und die Aufseher patrouillierten nur auf einer Uferseite. Als sie das Knacken hörte, dachte Ife zunächst an ein Paka, als es dann lauter wurde und von mehreren Stellen gleichzeitig kam, dachte sie an Pekaris und sah sich nach den nächsten Brettwurzeln um, zwischen die sie sich quetschen konnte, um sich nur gegen eines der Biester gleichzeitig verteidigen zu müssen. Etwa zwanzig Meter hinter ihr stand ein Baumriese, der ihr Schutz bieten würde. Doch kaum war Ife nur einen Schritt zurückgesprungen, versteinerte sie.
Etwa fünfzig Meter vor ihr stand der Fremde, der Peiniger Cobas, und spießte sie mit dem Blick seiner eisblauen Augen auf. Neben ihm hielt ein Schwarzer, den Ife nicht kannte, ein Buschmesser in der erhobenen Hand. Auf dem Boden stand eine Kiepe, in der sich Zweige und Blätter stapelten. Die dritte im Bunde war ihre alte Freundin Coba. Coba starrte sie an, ohne ein Zeichen des Wiedererkennens zu geben. Sie stand gebeugt und auf einen Knüppel gestützt und sah noch älter aus, als Ife sie in Erinnerung hatte. Ihr Körper schien nur noch halb bewohnt zu sein, die Wintis schwebten schon über ihr, um sich nach einem neuen Haus umzusehen.
Im Raum zwischen ihnen spielte sich ein unsichtbarer Kampf ab, bei dem alle Beteiligten äußerlich bewegungslos blieben. Der Fremde würde Ife nicht als ehemalige Sklavin von Sugar Creek erkennen, und der andere Sklave konnte ein Neuer sein. Coba würde sie niemals verraten. Doch auch wenn sie sie für eine Waldbewohnerin, eine entlaufene Sklavin einer anderen Plantage hielten, würde ihr dadurch ein gnädigeres Schicksal beschieden sein?
Als Ife noch auf Sugar Creek lebte, hatte sie zwei Überfälle erlebt. Die Waldmenschen waren nachts gekommen, einmal hatten sie nur zwei Schweine und einen Sack Hirse gestohlen, ein anderes Mal hatten sie zwei Wachen erledigt, den halben Geräteschuppen ausgeräumt und die Hütte anschließend angezündet. Ife musste wissen, dass alle Freien in den Wäldern für die Weißen böse waren. Es wäre das Klügste, die Beine in die Hand zu nehmen und zu verschwinden. Sie konnte nur hoffen, dass der fremde Sklave mit dem Messer sie nicht verfolgen würde.
Doch selbst wenn Ife entkam, würden sie danach sicher den Wald durchkämmen und damit wären vielleicht sogar Adjoa und die anderen in Gefahr. Ife hätte in die falsche Richtung laufen können. Doch sie blieb einfach stehen. Wer Menschen für Pekaris hielt, musste seiner gerechten Strafe entgegensehen.
5
Der Rotgesichtige sagte etwas zu seinem Sklaven, was Ife nicht verstand. Sofort ging dieser auf Ife zu, umklammerte ihre freie Hand und näherte sein Buschmesser ihrem Hals, ohne dabei aber besonders überzeugend zu wirken. Mit dem freien Arm drückte Ife ihre Palmblätter an die Brust. Nun kam auch der Rotgesichtige näher, fixierte Ife weiter mit seinen blauen Augen. Sein Blick verriet deutlich, dass er darauf brannte, Ife