Spieltraditionen, Personalstile und Signature-Licks der Rock and Roll-Gitarre. Dennis Schütze. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dennis Schütze
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783862870448
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Zum Begriff Rock and Roll

      „Rock and roll is a river of music that has absorbed many streams: rhythm and blues, jazz, rag time, cowboy songs, country songs, folk songs. All have contributed to the big beat.“

      (Rock and Roll-Promoter Alan Freed im Film „Rock, Rock, Rock“, 1956)

      Die Worte „rock“ und „roll“ bzw. „rocking“ und „rolling“ tauchen in Songtexten der afro-amerikanischen Populärmusk der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in regelmäßigen Abständen immer wieder auf. Sie werden in ihrer Kombination („rockin’ and rollin’“) von schwarzen Rhythm and Blues-Sängern gerne als spielerische Umschreibung für den Geschlechtsakt verwendet. Zur Bezeichnung einer musikalischen Stilistik wird der Begriff ab dem Juli 1951, als der Disk-Jockey Alan Freed bei dem Radiosender WJW in Cleveland, Ohio eine Show mit dem Schwerpunkt Rhythm and Blues startet, die sich dezidiert an junge, weiße Hörer richtet und den Namen „Moondog’s Rock and Roll Party“ trägt. Durch seine Sendung, die Veranstaltung von Konzertreihen und Auftritte in Kinofilmen hat er einen entscheidenden Anteil an der Etablierung des Begriffs, der jedoch bis heute nur lose definiert ist. Ein wichtiges gemeinsames Merkmal der Vertreter der neuen Stilistik ist von Anfang an die Zusammenführung von schwarzen und weißen Musiktraditionen und Zuhörern und damit das bewusste Verwischen der bis dahin geltenden stilistischen Zuordnungen. Da der neu entstandene Musikstil Rock and Roll keiner bestehenden kommerziellen Kategorie eindeutig zuzuordnen ist, erscheinen Chartnotierungen von veröffentlichten Singles zum Teil in zwei, manchmal sogar allen drei bis dahin bestehenden Kategorien der Billboard-Charts (Popular, Rhythm & Blues und Country & Western). Diese Unklarheit bezüglich der Zugehörigkeit ist wie bei kaum einer anderen Stilistik bis heute spürbar. In der um Einteilungen sicherlich nicht verlegenen Musikbranche existiert bis heute keine kommerzielle Kategorie mit dem Titel „Rock and Roll“. Auch eine entsprechende Billboard-Chart, auf die man bei der Beschäftigung mit dem Thema gerne zurückgreifen würde steht nicht zur Verfügung.

      Während die Entstehung des Begriffs Rock and Roll als Bezeichnung für die musikalische Stilistik relativ klar hergeleitet werden kann, gibt es unter Fachleuten bis zum heutigen Tag eine äußerst kontroverse Diskussion bezüglich der musikalischen Anfänge des Genres. Zum Teil sind komplette Bücher dieser Frage gewidmet (z.B. Dawson 1992). Obwohl landläufig die 1950er Jahre als Blütezeit des Rock and Roll gelten, werden von manchen Forschern erkennbare musikalische Merkmale des Rock and Roll bereits in Tonaufnahmen aus den 1910er und 1920er Jahren gefunden (Johnstone 2007). Spätestens jedoch im Country Blues der 1930er und Jump Blues der 1940er Jahre meinen Gillett (1980), Dawson (1992) und Tosches (1999) den inoffiziellen, musikalischen Beginn des Genres gefunden zu haben, auch wenn damals noch niemand den Begriff Rock and Roll zur Beschreibung des Musikstils verwendete. Auch wird das Ende des Genres sehr unterschiedlich wahrgenommen. Für einige endet die Ära des Rock and Roll bereits im Jahr 1956 (Tosches 1999), also in dem Jahr, in dem Elvis Presley seinen ersten nationalen Hit verzeichnen konnte. Gillett (1980) beendet in seinem Standardwerk „Sound and the City“ die dazugehörige Diskographie dagegen erst im Jahr 1971. Im folgenden eine tabellarische Übersicht, gelistet nach Erscheinungsjahr zum veranschlagten Beginn und Ende der Rock and Roll-Ära in einer Auswahl einschlägiger anglo-amerikanischer Fachliteratur, die hierzu eine numerische Angabe wagt.

AutorPublikationBeginnEnde
Belz, Carl196919531961
Gillett, Charlie197019541971
Shaw, Arnold197419541960
Tosches, Nick198419451956
Dawson, Jim & Propes, Steve19921944--
Garofalo, Reebee199719501959
Johnstone, Nick200719541958

      Es bleibt in dieser Frage also einiger interpretatorischer Spielraum, was vermutlich damit zusammenhängt, dass Rock and Roll neben der Bezeichnung für ein musikalisches Genre der 1950er Jahre in einer zweiten, sehr viel unverbindlicher gebrauchten Bedeutung als eine jugendlich-rebellische Geisteshaltung verstanden wird, die sich aus den Biographien einiger Figuren der Populärkultur herauslesen lässt und längst nicht auf den Bereich der Musik begrenzt ist. In der Literatur sind es Autoren wie Jack Kerouac, im Bereich Film Schauspieler wie Marlon Brando, James Dean und Marilyn Monroe, in der Kunst Maler wie Jackson Pollock, die sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in ihrer privaten Lebensführung zum Teil bis heute für eine wilde, intuitive und unangepasste Lebensweise ohne Rücksicht auf Verluste, den sogenannten Rock and Roll-Lifestyle stehen. Zusätzlich erschwert wird die Sachlage durch den Umstand, dass diese Geisteshaltung natürlich nicht auf das Zeitalter des Rock and Roll beschränkt ist, sondern sowohl vorher und in der medialen Wahrnehmung der Pop/Rockkultur vor allem danach in allen möglichen Schattierungen als eines der Grundelemente einer künstlerischen Biographie gilt (Bertrand 2005, Barker 2007).

      Um die Ära des frühen Rock and Roll einerseits von den folgenden Musikstilen mit musikalischen Anteilen des Rock and Roll, auf der anderen Seite aber auch von mythologisch aufgeladenen Rock and Roll-Livestyle abzugrenzen, hat sich in Fachkreisen teilweise die Bezeichnung „Early Rock and Roll“ herausgebildet. Durch den Zusatz Early sind Musikstile der 1960er Jahre und folgende definitiv aus der Auswahl ausgeschlossen. Eine für die vorliegende Arbeit nötige Eingrenzung des Begriffs erfolgt im nächsten Abschnitt.

      „[…] It was in the brief span between 1954 and 1956 that the rock aesthetic displaced the jazz-based aesthetic in American popular music.“ (Peterson 1990, S. 97)

      Um eine Untersuchung von einflussreichen und bedeutenden Instrumentalparts einer Ära vorzunehmen ist es erforderlich, das zu untersuchende Genre zeitlich und territorial einzugrenzen. Auch wenn Angaben zu Entstehungszeit und ersten Manifestationen unter Spezialisten divergieren, so lässt sich ohne Gefahr behaupten, dass der Musikstil Rock and Roll eine erwähnenswert große Bedeutung in der Öffentlichkeit ab dem Jahr 1954 entwickelt hat. Als Marker für den Beginn gelten Aufnahme und Veröffentlichung von Bill Haleys „Rock around the clock“ und Elvis Presleys Sun-Debut-Single „That’s all right“ (beide 1954). Obwohl „Rock around the clock“ erst Anfang 1955 als Soundtrack zu dem Film „Blackboard Jungle“ seine volle kommerzielle Durchschlagskraft entfaltet (Dawson 2005) und die ersten fünf Sun-Singles von Elvis Presley der Jahre 1954/55 nur regionale Erfolge in seiner Heimatstadt Memphis, Tennessee werden (Escott 1991), so werden gerade diese beiden Titel allgemein als Wendepunkt in der Geschichte der Populärmusik interpretiert und bleiben in keiner ernstzunehmenden Geschichtsschreibung des Genres unerwähnt (Belz 1972, Gillet 1980, Dawson 1992, Friedlander 1996, Tosches 1999, Stuessy 1999, Reebee 2002, Johnstone 2008). Der Höhepunkt des Genres kann mit Presleys großen, nationalen und bald auch internationalen Erfolgen nach seinem Labelwechsel von Sun Records zu RCA-Victor datiert werden. Ab der ersten RCA-Veröffentlichung „Heartbreak Hotel“ im Frühjahr 1956 landet diese und jede weitere Single-Veröffentlichung bis zum Antritt seines Militärdienstes sofort in den Top-10 der Billboard-Charts. Neben Presley, der nach Verkaufszahlen und Medienpräsenz in den 1950er Jahren das Genre klar dominierte, konnten aber auch andere Musiker und Bands des Rock and Roll in der Zeit um 1956 große kommerzielle Erfolge feiern. Die alteingesessene amerikanische Schallplattenindustrie, die das Genre und ihre Künstler anfangs noch als „fad“ (engl.: Moderscheinung) belächelt hatte (Gillett 1980, Reebee 1991), geriet mit dem anhaltenden kommerziellen Erfolg Presleys und anderer Künstler (z.B. Chuck Berry, Little Richard, Jerry Lee Lewis oder Carl Perkins), die bei kleinen, unabhängigen Labels unter Vertrag standen zunehmend unter Zugzwang. Sie suchten neue Künstler und es eröffneten sich dadurch Chancen für nachfolgende, junge Musiker einer zweiten Generation (Friedlander 1996) wie Buddy Holly, Eddie Cochran oder Gene Vincent (Tschmuck 2003).

      Kehrseite dieser großindustriellen Suche nach jungen Talenten der Schallplattenindustrie war die Entstehung des sogenannten Schlock Rock (Gillet 1980, Reebee 2002). Im Fahrwasser des Sängers Pat Boone, der schon ab Mitte der 1950 Erfolge mit entschärften Coverversionen erfolgreicher Rock and Roll-Titel feiern konnte, entstanden ab 1958 immer mehr für das Selbstverständnis der weißen Mittelschicht