Die Grünen. Marius Ivaskevicius. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marius Ivaskevicius
Издательство: Bookwire
Серия: Literatur aus Litauen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783898968508
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lange waren Wassili und ich in diesen Wachtürmen zu beiden Seiten des Urals. An mein Ufer blies der Wind von den Bergen her, sein Lager aber stand im Schutz der Stadt. Nichts Besonderes, die Stadt, doch den Wind hielt sie auf. Und ich steuerte den Wagen ins Ziel, während Wassili alles von sich gab, was er auf seinem Wachturm hatte heranreifen lassen.

      »Du bist kein Mensch, Zemaitis«, sagte er zur Halbleiche. »Wenn Lebedew mich fragt, dann antworte ich ihm: ›Herr Oberst, der Cognac war echt, bei Paris bin ich mir nicht sicher, dieser Mensch aber – nein.‹ Und das gilt für das ganze Land. Flüsse, Erde, Wald. Du trinkst Cognac – wieder echt, doch dass du im Wald trinkst oder am Fluss – das kommt dir nur so vor. Was konnte man hier Echtes tun – nur Cognac trinken oder eine russische Frau lieben. Und auch die Möbel sollten aus Russland sein. Und Afanassi vor der Tür Wache schieben«, fügte er mit erhobenem Kopf auf mich deutend an. »Auch der Boden sollte von dir verlegt werden. Und die Erde überprüft. Denn alles andere hier, Herr Oberst, ist eine böse Laune. Und es wird noch viel Zeit vergehen, bis wir dieser Laune Leben einhauchen.«

      Hier nickte auch ich aus meinem Wachturm. Stimmt. Ungewöhnliches Land: Schlachten – halb, Leichen – halb. Plötzlich kam Wassili wieder in den Sinn, dass auch er einst halb gewesen war. Kein Mensch, sondern eine Kriegskanone. Name, Vorname – echt. »Wassiliok«, hatte seine Mutter ihn gerufen. Die Kindheit war echt. Doch das Folgende – nur eine Kanone. »Den nackten Oberschenkel darfst du berühren, wenn du willst, Spiritus habe ich keinen«. Was sollte auch die Kanone mit Spiritus, und das Bein auf sie zu legen war dasselbe, wie ein Brückengeländer mit dem Beinen zu umklammern. Keine Sünde, kühl, angenehm.

      Dieses Halbsein von allem war mir unangenehm. Denn wenn Afanassi ganz war, die ganze Umgebung aber halb … Doch hier rülpste Genosse Komandir und verkündete, dass er von jetzt an ebenfalls ganz war. Dass er anfangen würde zu leben. Spiritus trinken, den man Kanone nicht gegeben hatte. Eine Frau lieben wolle. Mit ihr an den See zu fahren.

      »Gestern noch hätte ich sie gefragt«, sagte er, »lässt du mich deinen bloßen Oberschenkel berühren, Marinka? Mir als Kanone würde sie es erlauben. Heute Abend wird sie es auch erlauben. Wird aber auch erschaudern. Wenn der Mann sie berührt, schaudert die Frau. Seltsam, Zemaitis, dass zwei so Geschütze wie wir zusammenstoßen mussten, damit darauf von der Berührung des einen eine Frau erschaudert.«

      »Die Stadt, Genosse Komandir«, warnte ich.

      »Die Stadt«, wiederholte Wassili.

      Aus Wassili Sinizyns Verhör

      Ich habe schließlich das Recht, mit jedem zu sprechen, selbst mit Gott, wenn wir ihn einzufangen vermöchten und sich herausstellte, dass wir recht hatten: Es gibt keinen Gott. Ein vernünftiges Gespräch brachten wir nicht zustande. Ich war angetrunken, plapperte, was mir auf der Zunge lag, persönliche Erlebnisse. Er stammelte überhaupt nur einzelne Worte, doch in meinem Kopf verbanden sich diese auf wundersame Weise zu Sätzen und es sah fast so aus, als führten wir ein sinnvolles Gespräch.

      Die Stadt durchritten wir unbemerkt und kaum hatten wir den Stab erreicht, erteilte ich zwei Befehle: »Blumen und Marja Petrowna«. Blumen bekamen wir, doch die Sache mit Marja Petrowna gestaltete sich derart, dass ich jetzt nur in jeglicher Hinsicht mein Bedauern äußern kann: wegen der Blumen, wegen dem Krieg, den wir, könnte man sagen, zu zweit mit Afanassi mit einem Lastwagen durchquert hatten, und der uns nicht umgebracht, sondern nur viel zu leicht verletzt hatte, wegen Mutter und Vater, die eines Abends miteinander geschlafen und mich dann in die Welt geschoben hatten. Ich bin schon seit je der festen Meinung, dass der wahre Vater und die wahre Mutter eines Menschen nicht im Entferntesten diejenigen sind, die wir von Kindesbeinen an kennen. Die wahren Eltern sind der Tag, die Stunde und der Augenblick, in dem der Mensch gezeugt wurde. Denn im nächsten Augenblick wäre bereits ein anderer Mensch gezeugt worden, der vielleicht genauso im Krieg Afanassi begegnete, Žemaitis aus der Erde zöge, Fedja Blumen holen ließe und die ganze verdrehte Sache mit Marja Petrowna, Marinuschka, durchgezogen hätte. Nur mit dem Unterschied, dass er es jetzt wäre, der dieses erniedrigende Verhör über sich ergehen ließe und nicht ich.

      »Geh, Afanassi. Klopf an«, befahl ich. »Sag, wie es aussieht, haben wir den Krieg gewonnen. Mach nur nicht zu viel Lärm darum«. Dann befahl ich ihm zu gehen und winkte Fjodor zu mir. »Fedja, und du holst Blumen. Einen Strauß. Falls man Bezahlung wünscht, dann bezahl.«

      »Was für Blumen, Genosse Komandir?«, fragte Fjodor und gab damit zu verstehen, dass dies nichts Neues für ihn war. »Falls man mich fragt?«

      »Alle möglichen«, erwiderte ich. »Verletz mir nur niemanden«, warnte ich ihn und sah, dass Afanassi noch immer neben mir stand. »Und du, Afanassi, geh jetzt.«

      »Schon zurück, Genosse Komandir«, rapportierte er.

      »Und?«

      »Wird nicht gehen.«

      Diese Antwort klang so, als folgte sie der Frage: »Marja Golubkowa, Vatersname Petrowna, wollen Sie Wassili Sinizyn, Vatersname Iwanowitsch, zum Mann nehmen und ihn das ganze Leben lang lieben?« Und ihre Antwort lautete in etwa: »Zurzeit drücken mich die Schuhe sehr«.

      Dieses »wird nicht gehen« passte so gar nicht zu unserer Heldentat vom Morgen. Es war zu klein.

      »Geh schon«, schubste ich Afanassi. Wenn du drinnen bist, dann sag: »ich fürchte, Sie arbeiten umsonst so hart«. Ich packte ihn am Ärmel. »Sag das nicht. Sag, »hier will Sie jemand zum See fahren. Wird Sie baden. Sie werden ihm Kinder ausbrüten. Obwohl Sie nicht umsonst so hart arbeiten.«

      »Wer ist das?«, fragte Afanassi verstört.

      Ich gab ihm keine Antwort, denn in der Tür stand Marja Petrowna. Ich wollte einen Schritt in ihre Richtung gehen, doch das Gehen fiel mir schwer. Ich lehnte mich an den Wagen und beschloss, ihren Anblick aus der Ferne zu genießen.

      Ich fragte mich in der zweiten Person: »Wassili, liebst du sie schon?« Und die dritte Person antwortete: »Er liebt schon.« Und die erste fügte an: »Und wie.« Alle drei Personen waren sich bezüglich Marja Petrowna einig und ich dachte bei mir, wie wenige Dinge es doch im Leben gab, die man ohne zu zweifeln annahm.

      Ich lächelte. Sie faltete die Hände auf der Brust und ich folgte ihrem Beispiel. Ich sah das wunderbare Haus, in dessen Tür sie stand. Es war alt, grün, aus Holz. Marja Petrownas Dastehen mit auf der Brust gefalteten Händen tauchte es in ein helles Licht. Und ich bat das Haus um Verzeihung, dass Marja Petrowna nie mehr so würde dastehen können. Ich hielt einen besseren Ort für sie bereit. Das Haus wimmerte. Drinnen fand noch immer das Verhör statt.

      Sie ging einen Schritt auf mich zu. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Ich dachte, sie werde diese Strähne ergreifen und in ihr Ende beißen. Damit wäre alles gesagt gewesen. Die Entfernung, die uns noch trennte, würde ich weiter dahinschmelzen lassen. Doch sie strich ihr Haar zur Seite, so wie man ein Insekt verscheucht, trat zum Wagen und sah ihn so an, als ob sich dort die Seen befänden, in die zu waten ich ihr gleich vorschlagen würde.

      »Sei gegrüßt, Žemaitis«, sagte sie.

      Vielleicht nicht ganz das, was ich erwartet hatte. Ich hatte etwas Feierlicheres erwartet, doch als ich ihre Worte für mich übersetzte (»das ist er, der Sieg«, sagte in meinem Bewusstsein Marja Petrowna), da fand ich diese Worte treffend. Genau so eine Frau brauchte ich, die mir später sagen würde: »Da ist es, das Wasser, da ist er, der See, da ist er, wie klein er doch ist, gerade erst zur Welt gekommen, wir wollen ihn Iwan nennen, da ist es, das Alter, da schau nur, Wassiliok, wir haben gelebt.«

      Deshalb fand ich auch ihre Frage »Warum nass?« passend. »Da, wie nass er doch ist«, übersetzte ich sie.

      »Wir haben ihn gebadet«, erklärte ich.

      »Trocknet ihn ab«, sagte Marja Petrowna.

      Ich antwortete ihr:

      »Haben wir. Wir hatten ihn zugedeckt. Und gerade erst abgedeckt.«

      Sie wandte sich mir zu und streckte mir die Hand entgegen. Ich wartete darauf,