Die Grünen. Marius Ivaskevicius. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marius Ivaskevicius
Издательство: Bookwire
Серия: Literatur aus Litauen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783898968508
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gar so selten.«

      »Neben den Polen?«

      »Oberhalb.«

      »Noch nie in Paris gewesen?«

      »Noch nie.«

      »Wo ist sie jetzt?«

      »In Paris.«

      »Sie lügen, Žemaitis.«

      »In Paris. Genau jetzt – ihr Zug. Fünfzehn Uhr dreißig. Aus Berlin.«

      »Jetzt ist fünfzehn Uhr dreißig.« Sie schaut auf die Uhr.

      »Fünfzehn Uhr dreißig – ihr Zug.«

      »Um fünfzehn Uhr dreißig sitzen Sie in Fontainebleau und lassen sich von der armen Natalia die Haare schneiden.«

      »Um fünfzehn Uhr dreißig soll sie in Paris aussteigen.«

      »Es ist fünfzehn Uhr einunddreißig.«

      »Das heißt, sie ist ausgestiegen.«

      »Der Zug hat Verspätung, wenn Sie immer noch hier sitzen.«

      »Sie ist in Paris ausgestiegen«, bestätige ich.

      »Dann ab wie der Wind nach Paris, der Bahnsteig ist voller Clochards.«

      »Sie kommt nach Fontainebleau.«

      »Sie ist zum ersten Mal in Paris ausgestiegen.«

      »Ja«, sage ich, »und wird gleich den Zug nach Fontainebleau besteigen.«

      Natalia verleiht meiner Frisur den letzten Schliff und wischt mir die Haare aus dem Gesicht.

      »Oberhalb von Polen befindet sich wahrscheinlich das größte Fontainebleau der Welt.«

      »Das einzige Fontainebleau ist hier«, erwidere ich. »Was bin ich schuldig?«

      »Fünf Francs, in Paris wären es fünfzehn.«

      »In Paris würde ich zwanzig geben. Hier gebe ich sieben.«

      »Fünf Francs«, wiederholt Natalia. »Behalten Sie das Geld, Žemaitis. Sie wird nicht in den Zug nach Fontainebleau steigen. Sie werden in Paris nach ihr suchen müssen.«

      »Sieben«, bleibe ich standhaft und strecke ihr sieben Francs hin. »Oberhalb von Polen weiß niemand, dass Fontainebleau weniger wert ist als Paris.«

      »Oberhalb von Polen heulen wahrscheinlich die Winde und spazieren schneeweiße Eisbären herum.«

      In meiner Hand noch stets die sieben Francs.

      »Sie ist nicht so hübsch, wie ich dachte, wenn sie mit dem Zug nach Fontainebleau fährt«, meint Natalia überzeugt.

      »Fahren denn keine hübschen Frauen von Paris nach Fontainebleau?«

      »Aber doch nicht so!«, entgegnet Natalia störrisch, nimmt nicht einmal die fünf Francs von mir und macht Feierabend, denn sie hat keine Kunden mehr – und kommt mit mir.

      »Sie wird nicht kommen«, sagt sie am Bahnhof.

      Doch Elena steigt schon aus dem Zug.

      »Ist sie das?«, fragt Natalia.

      »Elena«, gebe ich ihr zur Antwort.

      »Nicht übel«, gesteht sie ein. »Also, was stehen Sie dann noch hier, sie Tölpel von einem Artillerist. Sie ist aus Paris angekommen.«

      »Über Berlin«, füge ich an.

      »Tragen Sie ihr Wunder ganz weit weg vom Bahnhof und kommen Sie mir nie mehr in den Weg. Schluss mit dem Haareschneiden bei mir, Žemaitis. Sie sind eine Haubitze. Ein seelenloses Geschütz.«

      »Schön?«, fragt mich Molkerei und zeigt mir die Zähne, zwischen denen ein Strohhalm steckt.

      Wir passieren Amerika, ein einfaches Holzhaus, dessen Deckname so lautet, und unser Pferd schielt hinüber, denn das ist sein Heimatstall.

      Drinnen ein Radioapparat der Marke Philips, dem Hausherrn vor undenklichen Zeiten vom Präsidenten persönlich ausgehändigt, doch das ist eine zu lange Geschichte. Den Apparat hat Sir Washington – so lautet der Deckname des Hausherrn – unter seinem Bett versteckt. Und immer, wenn wir zu ihm kommen, zieht er ihn hervor. Und rapportiert: »Präsident Grinius’ Radio, das für zwei Kühe an Sir Washington übergeben wurde, der seine Landreformpolitik unterstützte, hat in den letzten Wochen dies und das mitgeteilt, für dann und dann den Angriff des Westens versprochen, zwischen den Zeilen wurde dies und das gesagt, verschwiegen: dies und das«.

      »Schön?«, höre ich Molkerei erneut aufdringlich fragen.

      Sie zieht mich unter Sir Washingtons Bett hervor und lädt mich wieder auf den Wagen.

      »Und wie«, sage ich.

      Doch dann fragt sie:

      »Und wie?«

      Die Welt wiederholt sich voller Langeweile.

      »Sehr. So schöne habe ich noch nie gesehen.«

      Statt der lärmigen Pariser Straßen hat sie Stoppelfelder und einen Wagen mit einem angenagelten Motorradreifen im Angebot, statt eines Hotels, das uns gestattet, Paris ohne Fontainebleau einzuatmen, einen Bunker, in dem du errötest, wenn der Gestank deiner Fäkalien den der anderen »übertüncht«, doch für die arme Natalia hat sie keinen Ersatz, obwohl sie ihr eine neue Nationalität und einen neuen Decknamen anbietet.

      »Wer ist sie?« In einer Pariser Straße stehend und von 1938er-Passanten bedrängt, sieht Elena mich fragend an.

      »Eine arme Friseurin«, antworte ich.

      »So ist das also«, kommt sie in Fahrt.

      »Sie sagt das selbst jedes Mal«, versuche ich mich zu rechtfertigen.

      »Und du tröstest sie.«

      »Ich lasse mir die Haare schneiden. Auch sie ist Nichtfranzösin«, füge ich an.

      »Du redest, seit wir unterwegs sind, nur von ihr.«

      »Worüber soll ich denn sonst reden, über die Artillerie?«

      »Über die Artillerie.« Das letzte Wort spricht sie Silbe für Silbe aus, ohne Fehler, als ob sie dem Thema Artillerie den Weg bereiten möchte.

      »Diese Natalia fährt jeden Abend nach Paris. Sie ist der lebendige Widerspruch. Ein Vorwurf – an sich und die anderen. Sie liebt nur Paris und will nicht, dass jemand in Paris sie liebt. Deshalb kehrt sie jeden Abend zurück.«

      »Du kannst es nicht lassen, von ihr zu sprechen.« Elena verwirft ohnmächtig die Hände.

      »Eine einfache Friseurin aus Fontainebleau«, sage ich, »keiner Gefühlsausbrüche in Paris wert. Völlig anspruchslos. Obwohl sie auf den ersten Blick Anspruch auf alle erhebt. Sie hat dich übrigens ein Wunder genannt.«

      Elena kneift die Augen zu. Sie ist nicht kurzsichtig, sie kneift sie halb zu, um zu sehen, was sich hinter diesen Worten verbirgt.

      »Was hat sie damit gemeint?«

      »Den Zug Paris – Fontainebleau.«

      »Den Zug?«, wiederholt sie, als hätte ich sie in ihren Vorahnungen bekräftigt.

      Wir sind aber gar nicht zum Baden im Fluss unterwegs.

      Das ist eine etwas verworrene Angelegenheit.

      Wir wollen jemanden umbringen. Baden werden wir unterwegs.

      Der betreffende Mensch hat meinen Pass. Er hat ihn schon immer besessen. Und ich hatte seinen, wenn man das so sagen darf. In Wirklichkeit aber hatten wir ein jeder den eigenen. Nur waren unsere Pässe identisch.

      Diese Pässe sorgten schon vor dem Krieg für Verwirrung. Ich durfte lang und breit darlegen, dass ich keinen halben Hektar Wald besaß und keine Abgaben zahlen musste, und er durfte ständig seine Kriegsuntauglichkeit nachweisen, um nicht plötzlich