Die Grünen. Marius Ivaskevicius. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marius Ivaskevicius
Издательство: Bookwire
Серия: Literatur aus Litauen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783898968508
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Kopf im Wagen herumrollte und ihn an die Seiten schlug, war klar, dass er wusste, was er tat.

      »Rapolas, ich habe mich nicht lächerlich gemacht. Deinetwegen haben sie mich umgenietet. Warum fahren wir nicht, Afanassi?«

      Ich wollte, dass der Mensch, dessen Kopf an die Seiten des Wagens geschleudert wurde, seinem Schicksal an Ort und Stelle begegnet. Die Fahrt lenkt nur ab.

      Doch dies wäre eine zu lange Antwort auf die Frage »Warum fahren wir nicht?«.

      »Ich weiß den Weg nicht«, erwiderte ich, obwohl ich noch einiges andere nicht wusste.

      Aus Wassili Sinizyns Verhörprotokoll

      In meiner Kindheit wurde ich oft gefragt: »Wassili, ein graues Tier, es hoppelt, lange Ohren, feige …«

      »Ein Kaninchen«, sagte ich die Hand aufhaltend.

      »Nein, ein Hase. Und ein großes, krummbeiniges mit Pelz?«

      »Ein Bär oder ein Petz«, schoss ich hervor.

      »Nein ein anderer Bär. Du dachtest an den falschen. Und aus Metall, tief, man trägt damit das Wasser vom Ziehbrunnen ins Haus?«

      »Ein Eimer.«

      »Natürlich ein Eimer. Aber was für einer?«

      »Irgendeiner, ein emaillierter, kann auch ein schwarzer sein.«

      »Falsch. Ein weißer Eimer, die Farbe oben abgeblättert und der Henkel verbogen. Falsch geraten.«

      Mir schien, die Abweichung in Bezug auf Jonas Žemaitis war in etwa gleich groß wie die meiner Kindheitsantworten.

      Ich machte mir natürlich keine Illusionen mehr, dass da im Wagen der lag, von dem Lebedew sagen würde: »In Paris mag man Cognac.« Und nur weil meine Seen nicht sauber genug waren, hatte Marja Petrowna das Geschenk abgelehnt.

      Ich war auch noch nicht so betrunken, dass ich gedacht hätte: »Jetzt haben wir ein Jonas-Žemaitis-Muster, wir sind nur nicht zufrieden mit diesem Exemplar, morgen stehen wir früher auf und fahren erneut durch die Gegend. Dann finden wir einen anderen unter einer Leiter.«

      Ich spürte nur, dass mir dieser Krieg ein Rätsel aufgab: »Trank gern in Paris. Meinst du etwa, in Paris trinken wenige? … Und dennoch …«

      »Jonas Žemaitis.«

      »Noch zweimal raten.«

      »Falsch geraten?«

      »Genauer, bitte.«

      Im Wagen lag das, was man nicht als absoluten Fehler bezeichnen konnte. Wir mussten nur erraten, welcher Teil dieses Krüppels uns beim Lösen des Rätsels behilflich wäre. Denn die Antworten »Bär« und »anderer Bär« sind sich sehr ähnlich, obwohl es auch andere gibt: zum Beispiel »brauner Bär«, »Bär ohne Vorderpranke«.

      »Da, nimm dieses Papier und lies es«, sagte ich.

      In einer Hand hielt ich Rapolas’ Kopf, in der anderen den Pass von Jonas Žemaitis. Ich hielt die beiden Dinge nebeneinander und fügte hinzu:

      »Der Pass ist der richtige, du hast nur das Falsche gelesen. Afanassi fragt, wohin wir reiten wollen.«

      Falls man die Frage »Groß, krummbeinig, mit Fell?« mit »Bär oder Hase« beantwortete, so wäre der Bär nicht zufrieden damit. Wenn man einem Bären begegnen wollte, so hätte man besser in einem Hasenbau auf ihn gewartet.

      Im Pass interessierte mich nur ein Eintrag – Adresse.

      »Ich werde ihn jetzt wie eine Flagge durch die ganze Welt mitschleppen«, sagte ich und zeigte dabei auf Jonas Žemaitis. »Ich werde seinen Namen berühmt machen, bis der andere es nicht mehr aushält. Auf die Blumen, Fedja, pass du gut auf. Mit oder ohne die – den Žemaitis werden wir Marinka aushändigen.«

      Fjodor nickte zustimmend. Die Blumen hielt er fest umklammert. So, vielleicht ein wenig zu feierlich, setzten wir uns in Bewegung. Schon bald hatten wir die Stadt hinter uns gelassen.

      Von Rapolas vernahm ich in der Folge nur einen missratenen Satz:

      »Ein Weibsstück brauchst du, nicht Žemaitis.«

      »Ich bring dich um, du Affe«, erwiderte ich.

      Mehr sagten wir unser ganzes restliches Leben nicht zueinander.

      Ich bin ihm für vieles dankbar, doch die Fresse polierte ich ihm trotzdem. Denn er war um mich herum getänzelt, so wie man auf netten Abenden tanzt, und hatte dabei immer wieder »Jožemaitis« gesagt. Und ich hatte mich, als ich denselben Tanz vor Marja Petrowna aufführte, damit lächerlich gemacht.

      Als wir in den Wald fuhren, zuckte Žemaitis zusammen. Als ob ihn ein Schauer durchfahren hätte. Ich legte meine Hand auf seine Brust und ließ sie ziemlich lange da.

      »Ich wurde von Lebedew selbst gesandt, um dir die Ruhe wiederzugeben«, sagte ich. »Da ist noch so ein Mensch, mit dem habe ich keinen Cognac getrunken, bin ihm nicht in Paris begegnet – eine große Stadt. Doch er existiert. Du wirst ihn unter einer Leiter finden. Lass nicht zu, dass man ihm wehtut.«

      Er beruhigte sich.

      »Genosse Komandir«, war von vorne zu hören. »Sie könnten wenigstens auf die Straße schauen. Beachte die Wegweiser«, sagt er, »Afanassi. Es gibt keine Wegweiser hier.«

      »Es kommt ein Wegweiser«, sagte ich.

      »Es kommt kein Wegweiser«, zischte Afanassi und spuckte um sich. »Und da ist niemand, den wir fragen könnten. Was in ihren Pässen steht, das ist nicht unbedingt … Und falls es auch im richtigen Leben so ist – dann ist da nicht unbedingt ein Wegweiser.«

      Nach einer Weile fügte er an:

      »Ein Fluss.«

      »Sehe ich selbst«, erwiderte ich. »Nur waren wir schon mal hier, Afanassi.«

      »Wie weiter?«, fragte er, als er angehalten hatte.

      Weiter mussten wir auf der Straße fahren, die geradewegs oder mit auf Umwegen ins Dorf führte, das im Pass stand. Dort mussten wir auf einen Mann warten, der würde kommen, falls er noch lebte. Afanassi war ein erfahrener Fuhrmann, doch auch er brauchte wenigstens kleine Orientierungshilfen. Der Eintrag im Pass reichte nicht.

      »Wo ist dein Zuhause?«, rüttelte ich Žemaitis durch und er öffnete die Augen. Ich wohne weit weg, sagte ich mit dem Finger auf mich zeigend. »Und du?«, zeigte ich auf ihn. Er sah meine Finger an.

      »Bade ihn oder tu sonst was«, bat ich Afanassi.

      »Wir haben ihn schon gebadet«, rief er mir wieder in Erinnerung.

      Ich beugte mich über Žemaitis.

      »Ich bin Wassili«, schrie ich ihm ins Ohr. »Wassiliok rief mich meine Mutter. Wie rief man dich? Laut? Mich rief man laut.«

      Doch er tat keinen Wank.

      Aus Afanassi Duschanskis Verhörprotokoll

      Als wir endlich einer Menschenseele begegneten, schrie Genosse Komandir auch diese an. Als ob alle, die den Weg zu jenem Haus kannten, taub wären.

      »Sag, was dir auf der Zunge liegt«, riet ich jenem in Gedanken und er hörte es. Er zeigte in irgendeiner Richtung. Und sprach in seiner Sprache. Wassili unterbrach ihn nur dann und wann. »Kommt ein Wegweiser?« »Ja.«, antwortete jener und fuhr unbeirrt fort mit seinem Vortrag. Ich wusste, es würde kein Wegweiser kommen.

      »Es kommt ein Wegweiser.« Genosse Komandir klatschte in die Hände, als ob er mit jemandem gewettet hätte, dass dort ein Wegweiser wäre.

      Nach einer Weile hielt ich an. Es ging nicht mehr weiter.

      »Es geht nicht weiter«, sagte ich die Hände verwerfend. »Diesen Weg haben wir uns erst heute Morgen gebahnt.«