Hunter
AN HUME LOGAN:
Thompson ist gerade dabei, sich mit der existenzialistischen Philosophie von Jean-Paul Sartre auseinanderzusetzen, als sich ein Freund aus Louisville und ehemaliger Mitstreiter bei der Athenaeum Literary Association zu Wort meldet, der sich von Thompson Ratschläge für sein Leben und seine Laufbahn erhofft.
22. April 1958
Lieber Hume,
Du fragst mich um Rat: Ach, das ist nur menschlich, aber auch gefährlich – und eine zweischneidige Angelegenheit! Einem anderen Menschen Ratschläge zu erteilen, der fragt, was er mit seinem Leben anstellen soll, rührt an Dinge, die fast schon etwas Egomanisches an sich haben. Wer glaubt zu wissen, was für einen anderen das Richtige und einzig Wahre ist und mit zitterndem Finger den rechten Weg zu weisen versucht – sowas würde nur ein Verrückter tun.
Verrückt bin ich nicht, und ich schätze Deine Aufrichtigkeit, mit der Du Dich an mich wendest. Ich bitte Dich nur, Dir bewusst zu machen, dass jeder Rat gleichzeitig immer etwas über den Menschen erzählt, von dem er stammt. Was für den einen die Wahrheit ist, mag für den anderen den Untergang bedeuten. Ich sehe das Leben nicht mit Deinen Augen, so wie Du es auch nicht mit meinen siehst. Wollte ich versuchen, Dir einen persönlichen Rat zu geben, wäre das so, als würde ein Blinder einen Blinden führen.
Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage:
Ob’s edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden oder, sich
Waffnend gegen eine See von Plagen …
(Hamlet, Shakespeare)
Ja, das IST die Frage: sich mit der Strömung treiben zu lassen – oder zu schwimmen und ein Ziel vor Augen zu haben. Es ist eine Entscheidung, die wir alle, ob bewusst oder unbewusst, einmal in unserem Leben treffen müssen. Wie wenige Menschen es gibt, die das begreifen! Denk an irgendeine Entscheidung, die Du einmal getroffen hast und die sich auf Dein späteres Leben ausgewirkt hat: Ich mag falsch liegen, doch es ist für mich kaum vorstellbar, dass es nicht auch hier am Ende eine Entscheidung zwischen den beiden Grundhaltungen ist, die ich vorhin genannt habe: sich treiben lassen oder schwimmen.
Doch wenn man kein Ziel hat – lässt man sich dann nicht am besten einfach treiben? Das wäre eine weitere Frage. Ohne Zweifel ist es besser, das Dahintreiben zu genießen als ziellos umherzuschwimmen. Wie also findet man ein Ziel – nicht irgendwo in den Sternen, sondern als etwas Reales, Greifbares? Wie kann sich ein Mensch sicher sein, dass er nicht einem »Big Rock Candy Mountain«6 hinterherjagt, einer verlockenden Zukunft, die süß zu sein scheint, doch nach kaum etwas schmeckt und keinen Nährwert hat?
Die Antwort – und auf gewisse Weise die Tragik des Lebens – besteht darin, dass wir versuchen, uns über das Ziel klar zu werden und nicht über uns selbst. Wir setzen uns ein Ziel, das bestimmte Dinge von uns verlangt – und danach richten wir uns. Wir passen uns den Erfordernissen eines Konzepts an, das nicht gültig sein KANN. Nehmen wir an, als Du jung warst, wolltest Du ein Feuerwehrmann werden. Ich gehe davon aus, dass es damit längst vorbei ist. Und warum? Weil sich Dein Blickwinkel geändert hat. Nicht der Beruf des Feuerwehrmanns hat sich geändert, sondern Du selbst. Jeder Mensch ist die Gesamtsumme seiner Reaktionen auf das, was ihm widerfährt. Und dies ist etwas, das sich verändert und vielfältiger wird, Du wirst ein anderer, und entsprechend ändert sich Dein Blickwinkel. Das geht ewig so weiter. Jede Reaktion ist ein Lernprozess; jede wichtige Erfahrung ändert Deinen Blickwinkel.
Es wäre also albern, unser Leben auf ein Ziel zu richten, das immer wieder eine andere Gestalt annimmt. Stimmt’s? Wie könnten wir erwarten, auf diese Weise jemals etwas anderes herzubringen als gallopierende Neurosen?
Man sollte sich deshalb bei der Frage nach dem richtigen Leben nicht mit Zielen beschäftigen, zumindest nicht mit konkreten Zielen. Man bräuchte haufenweise Papier, um dieses Thema erschöpfend zu behandeln. Weiß Gott, wie viele Bücher über »die Bestimmung des Menschen« und verwandte Themen schon geschrieben wurden, und Gott allein weiß, wie viele Menschen darüber schon sinniert haben. (Wenn ich schreibe: »Gott allein weiß«, dann übrigens nur im Sinne einer Redewendung.) Es bringt nicht viel, wenn ich nun eine Antwort auf den sprichwörtlichen Punkt bringen wollte; denn ich muss zugeben, dass ich nicht kompetent genug bin, um den Sinn des Lebens in ein oder zwei Absätzen abhandeln zu können.
Um den Begriff »Existenzialismus« werde ich lieber einen Bogen machen, Du kannst ihn aber ruhig im Hinterkopf behalten, es ist ein Schlüsselbegriff. Auch solltest Du Dir mal von Sartre Das Sein und das Nichts sowie einen kleinen Band mit dem Titel Existenzialismus: von Dostojewski bis Sartre vornehmen. Das sind aber nur Vorschläge. Wenn Du aber grundsätzlich mit dem zufrieden bist, wer Du bist und was Du tust, dann rühre diese Bücher besser nicht an. (Man soll keine schlafenden Hunde wecken.)
Aber noch mal zurück zum Thema. Bestenfalls wäre es nicht besonders klug, wenn wir auf konkrete Ziele bauen würden. Wir wollen keine Feuerwehrmänner oder Bankleute oder Polizisten oder Ärzte werden. WIR STREBEN DANACH, WIR SELBST ZU WERDEN.
Aber versteh mich nicht falsch. Ich meine nicht, dass wir nicht auch Feuerwehrmänner, Bankleute oder Ärzte SEIN könnten – doch wir sollten ein solches Ziel auf unsere Persönlichkeit ausrichten, und nicht umgekehrt. In jedem Menschen bilden Erbanteile und Umwelteinflüsse eine Kombination, die ein Wesen mit bestimmten Fähigkeiten und Bedürfnissen entstehen lässt – dazu gehört auch das tief sitzende Bedürfnis, dem eigenen Leben BEDEUTUNG zu verleihen. Ein Mensch muss etwas SEIN; er muss Spuren hinterlassen. So wie ich es also sehe, stellt sich das Ganze etwa folgendermaßen dar: Der Mensch muss einen Weg gehen, der es ihm erlaubt, seine FÄHIGKEITEN so effektiv wie möglich zur Befriedigung seiner BEDÜRFNISSE einzusetzen. Dadurch erfüllt er ein Verlangen (sich eine Identität zu schaffen, indem er in einem klar abgesteckten Rahmen auf ein klar definiertes Ziel hinarbeitet), er vermeidet es, seine Talente zu verschleudern (indem er einen Weg geht, der seiner persönlichen Entwicklung keine Grenzen setzt), und er erspart sich den Schrecken, mitansehen zu müssen, wie das Ziel seinen ursprünglichen Zauber verliert, je mehr er sich ihm annähert (statt sich zu verbiegen, um jenen Anforderungen zu genügen, die das Ziel mit sich bringt, hat er umgekehrt die Zielvorgaben seinen eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen untergeordnet).
Kurz gesagt, er hat sein Leben nicht einem abstrakten Ziel geopfert, sondern hat sich für einen Lebensweg entschieden, von dem er WEISS, dass er ihn mit Freude erfüllen wird. Das Ziel ist absolut zweitrangig; was zählt, ist ein gangbarer Weg. Und es versteht sich eigentlich von selbst, dass ein Mensch diesen Weg selbst bestimmen MUSS; überließe er das einem anderen, würde er einen der wichtigsten Aspekte des Lebens fallen lassen – den entschiedenen Willensakt, der den Menschen erst zum Individuum macht.
Angenommen, Du hängst der Vorstellung an, zwischen acht Pfaden wählen zu können (die natürlich bereits alle eine Bestimmung haben). Und angenommen, Du kannst in keinem dieser acht Pfade einen rechten Sinn sehen. DANN – und das ist das Wesentliche, was ich meine – MUSST DU EINEN NEUNTEN PFAD FINDEN.
Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Das Leben, das Du bisher geführt hast, hat sich bisher in einem recht eng gefassten Rahmen bewegt, eine Existenz, die eher vertikal als horizontal verläuft. Deshalb ist es nicht besonders schwer, Deine momentane Gefühlslage nachzuvollziehen. Aber ein Mensch, der seine ENTSCHEIDUNGEN immer wieder hinauszögert, wird bald in der Situation sein, dass es andere sind, die Entscheidungen für ihn treffen.
Wenn Du Dich jetzt also unter die Desillusionierten einreihst, dann bleibt Dir nichts anderes übrig, als die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind – oder Du machst Dich ernsthaft auf die Suche nach einer Alternative. Doch hüte Dich davor, Dich auf die Suche nach Zielen zu begeben; finde eine Lebensweise, die Dir entspricht. Überlege Dir, wie Du gerne leben würdest, und schau Dich DANN erst nach einer Betätigung um, mit der Du Dir Deinen Lebensunterhalt verdienen kannst.
Du meintest aber: »Ich weiß