Ben hätte auch nichts gegen einen gutbezahlten Playback-Job im Fernsehen. Ab und zu wird er von einer Agentur vermittelt, um bekannte Popkünstler bei ihrer Playbackperformance zu begleiten. Er bewegt sich dann mit seinem Instrument zu fremder Musik. Eine Art Pop-Ballet. Ben findet es wichtig, daß das echte Musiker machen, nicht so wie in der Sektreklame, wo die „Wo-ist-der-Deinhart?“-Frau, nicht einmal weiß, wie man die Trommelstöcke richtig hält. Aber die Agentur hat dummerweise lange nicht mehr angerufen. Vielleicht, weil sie anderer Ansicht ist als er und findet, daß man genauso gut ein weibliches Model an den Baß stellen kann, um Rentner-Acts wie Phil Collins wenigstens optisch ein bißchen aufzupeppen.
Was fällt ihm noch ein? Unterrichten könnte er mal wieder. Aber das braucht auch einen gewissen Vorlauf. Anzeige in die Zeitung setzen, bei Musikschulen anrufen. All das geht auch nicht über Nacht. Und eigentlich hat Ben auch gar keinen Bock dazu. Seit seinem letzten Plattendeal mußte er nicht mehr unterrichten, und im Grunde ist er auch ein bißchen stolz darauf. Das ist eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, die er gerne möglichst lange herauszögern würde.
So, genug überlegt. Ben schaut erstmal nach seiner Elektro-Post. Nicht schlecht. Posteingang: 27.
Wahrscheinlich ist der größte Teil davon Müll und/oder Konzerthinweise seiner Kollegen. Ben ist sich sicher: Spam-Mails sind die Geschlechtskrankheiten der Neuzeit. Da ist er einmal zum Spaß auf eine Website mit Pornobildern gegangen, und schon erstickt er in Mails, mit denen für Penisverlängerungen geworben wird. Welcher Depp spannt sein bestes Stück schon freiwillig in einen Miniaturschraubstock aus Plastik? Das muß doch weh tun. Es gibt schon krankes Zeug auf der Welt, denkt er. Dabei kann die moderne Telekommunikation doch so viel Spaß machen. Sein Freund Ulf zum Beispiel hat ihm mal eine Mail geschickt, um zu seinem dreißigsten Geburtstag einzuladen. Betreff: Leber Enlargement!
Ben versucht weiter, Müll von Inhalt zu trennen. Delete, delete ...
Ah, die ist von Volker, einem von Bens besten Kumpels und Baß-Kollege. Mit ihm hat er zusammen in Köln studiert: Jazz und Popularmusik, wie es so schön heißt, und seitdem sind sie eng befreundet. Betreff: Babylon Busineß! Na, wo drückt denn der Schuh, fragt sich Ben beim Lesen der Mail. Verstehe, Volker braucht Hilfe bei einem Plattendeal. Er hat ihm den Vertragsentwurf mitgeschickt und bittet ihn, mal drüberzuschauen. Da Ben schon ein paar Verträge unterzeichnet hat, findet er meistens tatsächlich noch ein paar Punkte, die man verbessern könnte. Akribisch liest er die fünf Seiten durch und macht sich auf einem Zettel Notizen. Au, was ist das denn? Nein, das geht ja gar nicht! Ben antwortet umgehend.
Betreff: Unverarschbar!
Hallo Volker, altes Fahrrad,
herzlichen Glückwunsch zum potentiellen Plattendeal! Der Vertrag ist soweit ganz OK. Aber bei den Tantiemen mußt du noch ein bißchen pokern. So was vorzuschlagen ist ne echte Frechheit von denen. So etwas habe ich ja noch nie erlebt. Also, bei einem Künstlerdeal sollten es schon 12 % sein. Tiefer würde ich nicht gehen. Laß dich ja nicht verarschen von denen!
Liebe Grüße
Ben
So, weiter. Delete, delete ...
Hey, das ist interessant. Betreff: Wohin mit all der Liebe?
Moment mal. Diesen Satz kennt Ben irgendwoher. Ach richtig, es ist der Titel eines Liedes, das er vor über einem Jahr auf einem Sampler untergebracht hat. Seitdem hat er nichts mehr davon gehört. Kurios, denkt er, aus heiterem Himmel so eine verspätete Reaktion zu bekommen. Das weckt bei ihm Bilder aus seiner Kindheit.
Damals nahm er an einem Luftballon-Wettbewerb teil. Er beschrieb eine Postkarte mit seinem Namen, seiner Adresse und ein paar Grußworten an einen potentiellen Finder und knotete sie erwartungsvoll an einen mit Helium gefüllten Ballon. Auf dem Kirmesplatz, einer großen Wiese, in dessen Nähe er aufgewachsen ist, durfte er den Ballon dann endlich loslassen. Dieser schoß in die Luft davon, wurde immer kleiner und war irgendwann außer Sichtweite. Ein paar Wochen später, nachdem Ben ihn schon vergessen hatte, kam dann die Postkarte matschverschmiert zurück, mit dem Poststempel eines Ortes, von dem er nie zuvor gehört hatte. Eine für Ben immer noch unglaublich romantische Vorstellung. Message in a bottle.
Mit Musik, die er veröffentlicht, ist es oft nicht anders, denkt er. Sie kommt irgendwo raus, und nur, wenn man ganz viel Glück hat und schon gar nicht mehr damit rechnet, kommt irgendwann mal ein Feedback aus der Welt da draußen. Mit dem Stück, das er vor über einem Jahr produziert hat, wußte er zunächst nicht, wohin, da kam ihm die Veröffentlichung auf einer Kompilation gerade recht. Der Sampler wurde kein Riesenhit. Es gab ein paar positive Reviews in der regionalen Presse, aber im Großen und Ganzen ging die Veröffentlichung sang- und klanglos unter, wie bei so vielen Produkten, hinter denen keine riesen Promotion-Maschine sitzt. Um so überraschter ist Ben, als er die Mail vom Campus Radio Köln liest. Der Uni-Sender auf 100 MHZ ist praktisch der einzige in Köln, den man auf Dauer ertragen kann. Die Hippies spielen echt schräges Zeug, meistens Indie oder Punk, nachts manchmal sogar Jazz. Nur mittags, wenn die Moderatoren-Azubis eine Chance bekommen und das Mensamenü verlesen, muß man mal ein Auge zudrücken.
Hallo Ben,
ich bin Redakteurin beim Campus Radio Köln und habe dein Stück Wohin mit all der Liebe? gehört. Ich finde es echt super und würde gerne ein kleines Interview mit dir machen. Meld dich bitte mal, damit wir einen Termin ausmachen können.
Ganz liebe Grüße
Marie.
Wahnsinn. Auf der Platte sind zwanzig Titel, und sie hat seinen rausgesucht. Ben ruft sie an und verabredet sich mit ihr für den morgigen Abend. Er hat schon ein paar Sender von innen gesehen, aber beim Campus Radio Köln war er noch nie und ist echt gespannt, wie es dort wohl aussieht.
„Ja, Mutter, is gut, Mutter.“
Heinz steht telephonierend vor dem Schreibtisch seines sterilen Berliner Büros. Sein Gesicht ist bleich und sein bulliger Körper in sich zusammengesunken. Seine Stimme klingt kleinlaut: „Ja, ich paß auf ... ja, ich habe Unterwäsche zum Wechseln dabei ... natürlich, Mutter ... ja, ich dich auch, bis morgen.“ Heinz drückt die Auflege-Taste seines Handys und hält es weiter vor sich in der Hand, als wäre es eine stinkende Socke. Mit einem schnaubenden Geräusch preßt er Luft durch die Nase. Während er das Telephon in seine Anzugtasche steckt, mahlen seine Kieferknochen sicht- und hörbar. Glasig geht sein Blick ins Leere. So verharrt er gut zwanzig Sekunden. Plötzlich haut er mit voller Wucht auf die Platte seines Schreibtischs, die mit einem Mordslärm hochspringt. Langsam nimmt sein Gesicht wieder Farbe an. Die Verwandlung, die dabei an ihm vor sich geht, könnte nicht spektakulärer sein, wenn er ein Werwolf in natura wäre. Er setzt sich hin und wählt auf dem Tischtelephon die Nummer seiner Sekretärin. Gewohnt unfreundlich teilt er ihr mit, daß er ein Wagen vom Fahrservice braucht: „Und zwar sofort!“
Der Adresse auf seinem Zettel zufolge ist das Campus Radio in einem ganz normalen Wohnhaus untergebracht. Ben klingelt und betritt ein dunkles, ungepflegtes Treppenhaus, in dem es sehr international riecht. Im Erdgeschoß befindet sich laut Türschild das Akademische Auslandsamt und im ersten Stock das Martin-Buber-Institut für Judaistik. Natürlich ist das Studentenradio (wie Studenten im allgemeinen) im fünften, also obersten Stock untergebracht. Die Tür ist offen, und Ben betritt eine Diele, die aussieht, als gehöre sie zu einer stinknormalen Studentenbude. Zur Linken geht eine kleine Kaffeeküche und zur Rechten eine Toilette ab. Alles ist ganz schön versifft.