„Oh Mann, Fingernägel brechen immer dann ab, wenn man es gerade überhaupt nicht gebrauchen kann.“
Seit geraumer Zeit schon tut sich nichts mehr vor ihr am Lufthansa Check-in-Schalter. Abwesend nimmt sie die gerade erworbene Destiny’s-Child-CD aus der Tasche und versucht, das Preisschildchen abzuknibbeln. Klick, da knickt ihr weißlackierter, falscher Fingernagel einfach ab und schießt davon. Er titscht auf den Betonboden und kommt unpraktischerweise direkt unter dem Gepäckband neben dem Schalter zu liegen, so daß sie ihn nicht einmal aufheben und mitnehmen kann, um ihn später wieder anzukleben. Ärgerlich betrachtet sie den wieder zum Vorschein gekommenen echten Fingernagel, den sie unverzüglich in den Mund steckt und abkaut, als wolle sie ihn bestrafen.
Diese Warterei macht sie einfach nervös. Ihr ganzes Leben ist irrsinnig hektisch geworden, und sie empfindet so eine außerplanmäßige Verzögerung als weitere Schikane, sie von ihrem wohlverdienten Feierabend abzuhalten. Wie gerne säße sie jetzt auf ihrem roten Plüschsofa, mit einem Glas Cola Light in der Hand und einer Buffy-DVD im Player? Aber so schnell wird das heute nichts. Der Lärm im Terminal holt sie zurück ins Jetzt. Ihre Nerven liegen blank, und deswegen reagiert sie mehr als gereizt auf Preisschilder, die nicht abgehen, beziehungsweise Fingernägel, die zu früh abgehen (nämlich nach nicht einmal zwei Tagen). Da bauen sie winzige Kameras in Handys ein und können noch nicht mal den richtigen Kleber benutzen. Vielleicht sollte man den Fingernagel direkt mit dem Preisschildkleber dranpappen, dann wäre er jetzt immer noch dort, wo er hingehört. Sowas. Langsam kommt Bewegung in die Schlange.
Selbst der Kassenwart vom MTC hat etwas Schmieriges. Schlechtgelaunt hockt er ketterauchend auf einem Barhocker an einem kleinen Holztischchen und knöpft Ben acht Euro ab. Statt einer Eintrittskarte gibt es einen Stempel, was Ben gar nicht recht ist: „Die Scheiße geht doch nie wieder ab ...“
Die grauhaarige Lederjacke an der Kasse läßt jedoch nicht mit sich diskutieren und stempelt ihm Storno auf den Handrücken. Arschloch, denkt Ben und geht die schmale, L-förmige Treppe runter in den Keller, wo ihm bereits ein süßliches Rock&Roll-Parfum aus Zigarettenrauch, verschüttetem Bier und Klostein entgegenströmt. Er betritt einen langen Schlauch mit gekacheltem Boden, der parallel zu einer Theke verläuft und sich vor der Bühne wieder verbreitert. Wenn dort um die 150 Zuschauer stünden, wäre es schon ordentlich gestopft. Im Moment jedoch, oxidieren dort ein paar einzelne Gestalten herum, die darauf warten, herauszufinden, was die Crazy Lolitas so drauf haben. Natürlich geht das Konzert nicht pünktlich los, zumal so wenig Leute da sind. Jede Band hat die irreale Hoffnung, daß sich noch was tut an der Kasse, wenn sie nur lang genug wartet. Das ist natürlich Käse. Und die Gäste, die bereits da sind, kriegen langsam schlechte Laune oder fangen im besten Fall schon mal an zu trinken, was ja der Rezeption der Musik durchaus zuträglich sein kann. Ben peilt derweil die Lage. Ob er wohl irgend jemanden kennt im bislang sehr übersichtlichen Publikum? Und Tatsache: An der Bar lehnt Jan, ein junggebliebener Enddreißiger von der Kölner Illustrierten. In Bens Augen einer von den Guten, obwohl er für die Musikpresse arbeitet. Er hat nämlich immer nur positiv über die SERVOKINGS geschrieben.
„Hi, Jan. Und, können die was?“
„Keine Ahnung. Das ist das neue Ding von der EMI. Die Lolitas haben mit ihrem letzten Demo gleich einen riesen Plattendeal bekommen. Du mußt mal auf die Sängerin achten. Die sieht echt hasig aus.“
Irgendwie nimmt Ben solche Meldungen immer persönlich. Jahrelang hat er um einen Plattendeal gekämpft, sich den Arsch abgespielt und es kein einziges Mal geschafft, einen Plattenheini auf eines seiner Konzerte zu lotsen. Und dieses Studioprojekt bekommt sofort einen 1a Vertrag bei einem Major Label.
Die Welt ist schlecht, warum muß das so sein ...! erinnert er sich an einen seiner Texte. Plötzlich betreten die Crazy Lolitas die Bühne. Zunächst verpennt die Frau hinter der Theke, die Kneipenmucke auszumachen. Nach kurzer Verzögerung panzert die Musik von der Bühne los. Gar nicht mal so schlecht, findet Ben. Komisch jedoch, daß sich bislang noch niemand von der Band bewegt. Kommt wahrscheinlich alles von der Minidisc, analysiert er weiter, und da ist er schon mal grundsätzlich fies für. Ben steht halt auf handgemachte, ehrliche Musik. Trotzdem geht er ein paar Schritte näher an die Bühne heran, um zu prüfen, ob Jan nicht zuviel versprochen hat. Und Tatsache: Die Sängerin sieht super aus. Sie hat einen kecken, rötlich schimmernden Pagenkopf und trägt ein knappes weißes T-Shirt, was den Blick auf ihren hübschen, gepierceten Bauchnabel zuläßt. Arschgeweih oder nicht? rätselt Ben. Davon abgesehen kann sie wirklich toll singen, was in einem krassen Gegensatz zu ihrer Performance steht. Sie wirkt extrem unlocker, als habe sie jemand auf der Bühne abgestellt und dort vergessen. Das erste Stück ist zu Ende, und das spärliche Publikum spendet einen ebenso spärlichen Applaus. Es entsteht eine peinliche Pause, denn der Sampler des Keyboarders hat gerade seinen Geist aufgegeben. Die Sängerin, die Susan heißt, wird von der unfreiwilligen Pause böse überrascht. Sie ergreift, dramaturgisch sehr unglücklich, die Gelegenheit, die Band vorzustellen.
„An der Gitarre haben wir den Jörg.“ Vereinzelte Klatscher.
„Am Keyboard ist der Xaver.“ Ungünstigerweise hockt Xaver gerade mit dem Rücken zum Publikum vor einem verwirrenden Kabelhaufen und versucht herauszufinden, was mit der Stromversorgung seines Keyboards los ist. Als er vorgestellt wird, kann man seine Arschritze sehen. Susan fällt langsam nichts mehr ein. Gerade erwähnt sie die in Kürze erscheinende CD ihrer Band, als ein besoffener Zuschauer „Ausziehen!“ brüllt. Ein anderer, weitaus differenzierterer Konzertbesucher schreit: „Hör auf zu labern, sing!“ Ben kann sich diesem Statement nur anschließen und überlegt bereits, was wohl ein probates Mittel wäre, dieser peinlichen Veranstaltung die richtige Wendung zu geben. Sein Blick schweift den engen Gang neben der Theke entlang, an dessen Ende der Mischer hinter sein Pult gequetscht steht. Im Vorbeigehen zieht Ben rasch und unbemerkt ein Kabel vom Mischpult, als sei er David Copperfield und bereitet so dem Ansageelend des Bauchnabelwunders ein schmerzloses Ende. Zunächst spricht Susan weiter, bis sie bemerkt, daß sie vor der Bühne gar nicht mehr zu hören ist. Verstört klopft sie auf ihr Mikro und fuchtelt hektisch mit den Armen, um dem Mischer zu bedeuten, daß er doch bitte schnell irgend etwas unternehmen soll. Dieser nestelt ratlos an seinen Knöpfen und geht schließlich um sein Pult herum, um zu gucken, was da los ist. Ben nutzt die Gelegenheit und reißt unbemerkt den Regler des Gesangskanals voll auf. Noch auf der Treppe hört er, daß sein Plan aufgeht: Als der Tontechniker das lose Kabel findet und wieder einsteckt, gibt es eine brüllend laute Rückkopplung, einen irrsinnig hohen, bestialisch schrillen Ton, so daß die Sängerin halb taub und der Bedarf des Publikums an Live-Musik zumindest an diesem Abend schlagartig gedeckt ist. Strafe muß sein, denkt Ben und geht raus auf die Straße.
Wow, das hat gesessen. Wie man doch mit kleinen Mitteln eine große Wirkung erzielen kann, hört er seine innere Stimme sprechen und sieht, daß ihm sein eigenes Spiegelbild aus dem dunklen Schaufenster eines Lack- und Ledergeschäftes komplizenhaft zulächelt. Scheiße, das hat leider Spaß gemacht. Zufrieden geht er direkt um die Ecke ins Feynsinn, um noch ein, zwei Kölsch zu trinken. Hoffentlich arbeitet dort wieder die hübsche Bedienung von letzter Woche. Eigentlich ist ihm der Laden einen Tick zu spießig, aber die braungelockte Kellnerin