„Machen Sie den Scheiß aus ... Bitte.“
Diese jungen Leute werden immer unverschämter, denkt sich der Taxifahrer und stellt irritiert das Radio ab. In die einsetzende Stille schneidet das Klingeln seines Mobiltelephons in einer irrsinnigen Lautstärke. Er geht nicht ran, und so kommt Ben in den Genuß des gesamten Kehrreims von En unserem Veedel.
„Schön, nicht?“
Ben wird langsam ungehalten. Handy-Klingeltöne sind für ihn akustische Umweltverschmutzung. Man muß sich das mal klarmachen: Menschen bezahlen für solche Klingeltöne auch noch Geld. Aus dem Internet ziehen sie sich megabyteweise Musik runter – und zwar kostenlos –, aber für Klingeltöne zahlen sie richtig Kohle, dabei kann man die selbst programmieren, vorausgesetzt, man besitzt einen IQ über Zimmertemperatur. An einer roten Ampel kommt das Taxi zum Stehen. Anscheinend probiert es der Anrufer erneut, denn das Handy entfesselt abermals seine apokalyptische Kakophonie.
„Können Sie das Ding nicht stumm stellen?“ fragt Ben gereizt.
„Keine Ahnung, wie das geht.“
„Zeigen Sie mal her.“ Ben reißt dem Fahrer das Handy aus der Hand, öffnet die Tür, wirft es auf die Straße und springt selbst hinterher.
Geschmack kann man halt nicht kaufen, denkt er und rennt los.
Eine kalte Wintersonne gibt sich redlich Mühe, die Nacht zu vertreiben.
Ben schält sich aus dem Bett, geht ins Bad und duscht kalt. Das macht er nicht, weil seine Dusche kaputt ist. Er glaubt, daß das irgendwie gesund sei, und tatsächlich war er schon lange nicht mehr krank. Dieses Kaltduschen ist eine der Marotten, die er seit seiner Jugend beibehalten hat. Ebenso beschloß er damals, in den militant anti-amerikanischen 80ern, von einem Tag auf den anderen, keine Cola mehr zu trinken, um ein Zeichen gegen den amerikanischen Kulturimperialismus zu setzten. Daran hält er bis heute fest, und wahrscheinlich ist das der Versuch, irgendwie Konstanten in sein sonst so unstetes Leben zu bringen. Aber all das ist Schnickschnack gegen den einzigen wirklichen Fixstern in seinem Leben: die Liebe zur Musik. Für Ben ist Musik etwas Heiliges. Sie steht ganz oben, Galaxien über diesem jämmerlichen Planeten. Dann kommt erstmal lange nichts. Und an diesem Ideal muß sich diese profane Welt, oder, im Fall von gestern nacht, geschmacksverirrte Taxifahrer, erst einmal messen. Ob seiner elitären Vorstellung von Musik wird der lärmverseuchte Großstadtdschungel zum Minenfeld. Überall lauern Abgründe des schlechten Geschmacks. Und wenn er nicht aufpaßt, fällt er manchmal selbst hinein, besonders, weil er versucht, mit Musik Geld zu verdienen.
Apropos Geld: Ben muß sich langsam mal ernsthaft Gedanken darüber machen, wie er an die Kohle für den nächsten Monat kommen soll. Das kommende Jahr sieht in seinem Terminkalender aus, als sei es eine Werbung für Tipp-Ex (verdammt viel ist ausgefallen) oder für Faber-Castell (ein Haufen Termine stehen da in Bleistift und sind noch nicht bestätigt). Mit anderen Worten: Ben bewegt sich finanziell gesehen mal wieder auf extrem dünnem Eis. Eigentlich war das immer schon so, abgesehen vielleicht von der Zeit, als er bei der recht erfolgreichen Rockband M. the walking spielte, die einen Deal bei Motor Music hatte, was Mitte der 90er bedeutete, einen ganz passablen Vorschuß auf die zu erwartenden Plattenverkäufe zu bekommen. Das Internet hatte sich noch nicht im großen Maße als Musikplattform durchgesetzt, und die Plattenfirmen ahnten damals noch nicht, daß sich die CD-Verkäufe schon kurze Zeit später drastisch verringern und sie am Stock gehen würden. In Bens Fall schüttete die Band den Vorschuß monatlich an die Bandmitglieder aus, so daß die Miete schon mal im Sack war.
Dann kamen noch die Gagen für die ganzen Konzerte dazu, so daß er sich damals keine besonders großen Sorgen um seinen Brotbelag machen mußte. Zugegeben, man wird nicht zwingend reich als Musiker, aber die meisten Menschen wären verblüfft, wenn sie wüßten, wie viele Musiker von ihrer Kunst leben, ohne, daß man ihren Namen jemals irgendwo gelesen oder etwas von ihrer Arbeit im Fernsehen gesehen hätte. Bens Kumpel Peter zum Beispiel hat sich mit Tanzmucke einen Flügel und einen Sportwagen erspielt, nachdem er bei den SERVOKINGS ausgestiegen war. Ben will trotzdem nicht mit ihm tauschen. Er selbst macht Musik, um sein persönliches Statement anzuliefern, um seine Message in die Welt zu pusten. Leider verhält sich die Welt momentan gar nicht danach, als wolle sie sie hören.
Shoppen ist geil! Früher, als sie noch zur Schule ging, konnte sie sich immer nur das Nötigste kaufen. Dadurch hatte sie echte Schwierigkeiten, mit dem Modetempo ihrer Mitschülerinnen Schritt zu halten. Damals hat ihr Shoppen einfach keinen Spaß gemacht. Sie mußte immer abwägen: „Nimmst du jetzt das Teil oder lieber das ...“ Dauernd mußte sie sich entscheiden, sonst wäre es einfach zu teuer geworden. Heute steht sie in einer Boutique am Kudamm und nimmt einfach beides. Und dieses Gefühl der Allmacht genießt sie sehr. In letzter Zeit verfällt sie immer öfter in eine Art Kaufrausch. Sie bekommt richtig feuchte Hände, wenn sie daran denkt, daß sie gleich mit all den Sachen, die sie gerade aussucht, aus dem Laden spazieren wird und davor nur kurz ihre Platinum-Karte zücken muß. Nur das Verhalten der Verkäuferin, die sie gerade bedient, geht ihr ganz schön auf die Nerven. Sie wird das Gefühl nicht los, daß sie etwas aufgeschwatzt bekommt, was ihr eigentlich gar nicht so richtig steht. Der apricotfarbene Pullover, den sie gerade anprobiert, macht zwar ein ganz schönes Dekolleté, sitzt jedoch unten herum viel zu spack. Irgendwie ist sie sich nicht sicher, ob sie ihn kaufen soll. Die nachlässig blondierte und etwas zu freundliche Verkäuferin rät weiterhin unbeirrt zum Kauf, denn sie geht (zu Recht) von einer gewissen Solvenz ihrer Kundin aus. Diese wiederum mustert sie mißtrauisch und denkt, wahrscheinlich ist die alte Schrulle nur deswegen so freundlich zu mir, weil sie am Umsatz beteiligt ist. Genau deswegen ist sie allerdings eine denkbar schlechte Beraterin. Am liebsten würde die junge Frau mal wieder zusammen mit ihrer besten Freundin Simone shoppen gehen, wie früher, inkognito und ohne belästigt zu werden. Simone ist wenigstens ehrlich zu ihr.
Ben steigt aus der Dusche und wirft sich den seidenen Morgenmantel über, den er von seinem Vater geerbt hat. Das gute Stück ist aus den 60ern, und Ben sieht darin aus wie Sherlock Holmes bei seiner Frühgymnastik. Er füllt Espressopulver in eine kleine silberne Kanne und entzündet eine Flamme seines verbeulten Gasherds. Auf einer zweiten Flamme stellt er einen Topf mit Milch, die er mit einem Schneebesen gewissenhaft aufschäumt. Wenn Ben eins kann, ist es Milchkaffee kochen! Er schiebt Glenn Goulds Goldbergvariationen in den CD-Spieler. Nach den ersten ihm vertrauten Takten fühlt er sich, als streife er die Musik über wie eine bequeme Jacke, und ihm wird wohl und behaglich. Seiner Ex war Bach immer zu depressiv am frühen Morgen, aber Ben bringt das in genau die richtige, klare Stimmung, seine Strategie zu überdenken. Ehrlich gesagt, würde er im Moment jeden musikalischen Job annehmen, den er angeboten bekäme. Das Schöne und zugleich Schreckliche an seiner Situation ist, daß er verdammt viel machen könnte, mit dem, was er gelernt hat. Er könnte überall und nirgends spielen, wenn man ihn fragte. Wenn zum Beispiel die WDR Bigband bei ihm anriefe und er sich in einer Aufnahmesession wiederfände, vor sich eine dreiseitige Notentapete, dann würde er die Musik verdammt noch mal vom Blatt spielen und das gar nicht mal so schlecht. Aber wo und mit wem man wann Musik spielt, hat selten was mit Können zu tun, sondern vielmehr mit dem Stil, den man verkörpert. Und Ben ist einfach nicht gerade bekannt dafür, der mega Bigbandbassist zu sein, so daß er lange auf einen Anruf vom WDR warten kann. Da ist es fast schon wahrscheinlicher, daß das Management von NENA mit ihm Kontakt aufnimmt und ihn für eine Tour engagiert. Bevor das passiert, könnte er sich natürlich auch in irgendeinen Musicalgraben setzen. Dann müßte das Schmerzensgeld allerdings hoch genug sein, denn so schön kann ein Musical gar nicht sein, als daß man es jeden Tag einmal und sonntags sogar zweimal ertragen könnte. Er behält diese Möglichkeit mal im Kopf, für den Fall, daß alle Stricke reißen.
Was ist eigentlich mit meinen Diner-Jazz Spezies? fragt er sich. Diner-Jazz ist nach seiner Definition kein Musikstil, sondern ein Agreement, eine Absprache zwischen seinem Auftraggeber, dem Gastgeber einer Party und der Band, die verspricht, so leise zu spielen, daß