»Konflikt, Klimawandel und COVID-19 sorgen für die größte humanitäre Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg.« Mit diesen Worten appellierte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres Anfang Dezember 2020 an die Mitgliedstaaten, deutlich mehr Geld zur Bewältigung dieser Herausforderungen bereitzustellen. Bis dahin hatte die OCHA noch nicht einmal die Hälfte der für das Jahr 2020 benötigten Finanzmittel erhalten.
Für 2021 haben die UNO-Organisationen, die an der Versorgung von Menschen mit humanitärer (Überlebens)Hilfe beteiligt sind, bei den Mitgliedstaaten einen dringenden Finanzbedarf von 35 Milliarden US-Dollar angemeldet. Die Aussichten, dass die benötigten Gelder bereitgestellt werden, waren nicht groß, denn die meisten Industriestaaten des Nordens hatten sich bereits 2020 mit hohen Ausgaben zur Bewältigung der Corona-Folgen im eigenen Land extrem verschuldet und planten dies auch für 2021. Pro 100 US-Dollar, die die Industriestaaten 2020 zur Unterstützung der eigenen Bevölkerung in der Corona-Krise ausgaben, stellten sie weniger als fünf US-Cent für die soziale Absicherung von Menschen in ärmeren Ländern zur Verfügung.
Impfnationalismus statt globaler Solidarität
Auch mit Blick auf die Verteilung und den Einsatz von Impfstoffen gegen das Corona-Virus demonstrierten die Industriestaaten zunächst nationalen Egoismus statt globaler Verantwortung. Bei der Jahresversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Mitte Mai 2020 klang das noch anders. Damals stimmten mit Ausnahme der USA alle anderen 192 WHO-Mitgliedstaaten einer Resolution zu, wonach alle Menschen auf der Erde in gleicher Weise Zugang zu Impfstoffen erhalten sollten, sobald diese entwickelt und verfügbar seien. Die Resolution wies der WHO und der UNO eine führende Rolle bei der Koordination der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu.
Und die Resolution verwies ausdrücklich auf die Ausnahmeregeln in dem Abkommen zum Schutz handelsbezogenen geistigen Eigentums (TRIPS), das in den neunziger Jahren im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) vereinbart wurde. Dass auch Patente auf Medikamente, Impfstoffe und andere medizinische Güter unter diese Schutzbestimmungen fallen, hatte damals der US-Pharmakonzern Pfizer durchgesetzt. Nach den Ausnahmeregeln des TRIPS-Abkommens können die Patentrechte von Pharmakonzernen in Gesundheitskrisen wie einer Pandemie ausgesetzt werden. Damit soll ermöglicht werden, dass andere Unternehmen Lizenzen erhalten, damit sie preiswerte Generika herstellen und in solche Länder exportieren können, in denen großer Bedarf an Medikamenten oder Impstoffen besteht. Generika sind Arzneimittel, die bei gleicher Zusammensetzung und Wirkung nicht den Markennamen tragen und deshalb um einiges preisgünstiger sind. Vereinbart wurden die TRIPS-Ausnahmeregeln auf den Ministerkonferenzen der WTO in den Jahren 2001 und 2003 unter dem Druck der AIDS-Pandemie. Seitdem konnten viele Millionen HIV-Infizierte vor allem in afrikanischen Ländern, die sich die überteuerten AIDS-Präparate der großen Pharmakonzerne aus den USA, der EU, Japan und der Schweiz nicht leisten können, mit preislich erschwinglichen Generika versorgt werden. Diese werden in Indien, Südafrika und Brasilien produziert.
Doch als Indien und Südafrika Anfang Oktober 2020 bei der WTO den Antrag stellten, die Ausnahmeregeln des TRIPS-Abkommens jetzt auch für Corona-Impfstoffe anzuwenden, stimmten nicht nur die USA, sondern auch die EU und weitere Industriestaaten dagegen. Und dies, obwohl schon damals offenkundig war, dass die Patentrechte der großen westlichen Pharmakonzerne bereits in der Anfangsphase der Corona-Pandemie die Versorgung ärmerer Länder mit Schutzkleidung und -masken, Atemgeräten und anderen dringend benötigten medizinischen Gütern stark behindert hatten. Die große Mehrheit von über 140 der 164 WTO-Mitgliedstaaten unterstützte den indisch-südafrikanischen Antrag. Doch WTO-Beschlüsse sind nur mit Konsens aller Mitgliedstaaten möglich, und die Industriestaaten blieben auch in zwei weiteren Beratungsrunden im November und Dezember 2020 bei ihrer Ablehnung.
COVAX – zweitbeste Lösung, aber kaum umgesetzt
Als zweitbeste Lösung zur Umsetzung der WHO-Resolution vom Mai 2020 mit dem Ziel, dass alle Länder, unabhängig von ihrer Kaufkraft, zügigen Zugang zu Impfstoffen gegen COVID-19 erhalten, wurde die COVAX Facility ins Leben ins Leben gerufen. COVAX steht für »COVID-19 Vaccines Global Access«. Beteiligt an der Einrichtung sind neben der WHO auch die privat-öffentlichen Impfstoffallianzen Gavi (Global Alliance for Vaccines and Immunizations), in der Pharmakonzerne und die Bill and Melinda Gates Foundation eine wichtige Rolle spielen, und CEPI (Coalition for Epidemic Preparedness Innovations). Die Einrichtung soll zum einen die Entwicklung und Produktion von Impfstoffen beschleunigen. Vor allem aber ist sie dafür zuständig, Impfstoffdosen bei Herstellerfirmen zu kaufen und allen Staaten zuzuteilen, die ihre Teilnahme an COVAX erklärt haben. Bis Ende 2020 beschlossen 190 von insgesamt rund 200 Staaten weltweit ihre Teilnahme an COVAX, darunter 98 wohlhabendere Länder und 92 Staaten mit niedrigem und mittlerem Einkommen.
Erklärtes Ziel von COVAX ist, bis Ende 2021 mindestens zwei Milliarden qualitätsgesicherte und bedarfsgerechte Impfstoffdosen bereitzustellen, um die akute Phase der Pandemie zu beenden. Mindestens 1,3 Milliarden dieser Impfdosen sollen an ärmere Länder gehen, damit sie 2021 wenigstens 20 Prozent ihrer Bevölkerung schützen können. Wohlhabendere Nationen zahlen den vollen Preis, den die COVAX Facility mit Impfstoffherstellern aushandelt. Ärmere Länder werden um eine finanzielle Beteiligung gebeten, haben aber, falls ihnen das nicht möglich ist, Anspruch auf Gratislieferungen. Außerdem gibt es Länder wie Deutschland, Frankreich oder Spanien, die zwar via COVAX keinen Impfstoff bestellen, aber die Beschaffung für andere finanziell unterstützen. Hinter diesem Modell steht der Gedanke der Solidarität und die Überzeugung, dass die COVID-19-Pandemie sich in einer eng verflochtenen Welt nur eindämmen lässt, wenn alle Regionen ausreichend geschützt sind.
Noch beim Gipfel der G20-Staaten Ende November 2020 bekräftigte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer damaligen Funktion als Ratsvorsitzende der EU dieses Ziel mit den Worten: »Der Zugang zur Impfung muss für alle Länder möglich und bezahlbar sein.« Ähnlich äußerte sich die EU-Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen.
Doch die Realität hinter diesen wohlklingenden Resolutionen und Erklärungen sah anders aus. Die USA, die der COVAX Facility ohnehin nicht beigetreten waren, sowie die EU, Großbritannien, Kanada, Japan, Australien, Israel und andere zahlungskräftige Industriestaaten, in denen insgesamt lediglich 13 Prozent der Weltbevölkerung leben, sicherten sich im zweiten Halbjahr 2020 durch exklusive Vorverträge mit sechs potenziellen westlichen Herstellerfirmen die Option auf insgesamt 3,85 Milliarden Impfdosen. Die meisten dieser Länder haben dabei mehr Impfstoff bestellt, als sie selbst bei zweimaliger Impfung für die eigene Bevölkerung benötigen. Spitzenreiter ist Kanada, das für seine 40 Millionen Einwohner 300 Millionen Impfdosen bestellte. Die EU sicherte sich 1,965 Milliarden Impfdosen für die 450 Millionen EU-Bürger im Wert von über 25 Milliarden Euro. Die USA orderte 800 Millionen Dosen für 330 Millionen Einwohner. Großbritannien und Australien bestellten für jeden Einwohner jeweils mehr als 2,5 Impfdosen.
Insgesamt sicherten sich die Industriestaaten 51 Prozent der 7,55 Milliarden Impfdosen, deren Herstellung und Lieferung die sechs westlichen Unternehmen auf Grund ihrer Produktionskapaziät bis Ende 2021 zusagen konnten. Allerdings hatten bis Mitte März 2021 lediglich die zwei Impfstoffe des deutsch-amerikanischen Konsortiums Biontech/Pfizer und des US-Konzerns Moderna alle nach wissenschaftlichen Standards erforderlichen Test- und Prüfverfahren abgeschlossen und eine Zulassung in der EU, in Großbritannien und in den USA erhalten; der Impfstoff des schwedisch-britischen Konzerns AstraZeneca war zunächst nur in Großbritannien zugelassen. Der US-Konzern Johnson & Johnson, das deutsche Unternehmen Curevac sowie das französisch-britische Konsortium Sanofi/GlaxoSmithKline warteten noch auf die Zulassung.
Doch selbst wenn diese drei Hersteller ebenfalls die Zulassung erhalten sollten und darüber hinaus auch weitere sieben Unternehmen, die nach einer Untersuchung der Johns-Hopkins-Universität im Dezember 2020 mit der Entwicklung eines Impfstoffs am weitesten fortgeschritten waren, könnten bis Ende 2021 optimistisch geschätzt maximal 5,96 Milliarden Impfeinheiten, bestehend aus jeweils zwei Impfdosen, produziert werden. Damit würde rund ein Fünftel der Weltbevölkerung frühestens ab 2022 Zugang zu einem Impfstoff haben. Und für die allermeisten