Der damalige US-Außenminister Warren Christopher hatte seinen für Afrika zuständigen Beamten sogar ausdrücklich untersagt, mit Blick auf Ruanda von einem drohenden »Völkermord« zu sprechen. Das, so Christophers Befürchtung, hätte die USA unter politisch-moralischen Handlungsdruck gesetzt. Denn die UNO-Konvention zur Verhinderung von Genozid (Völkermord) von 1948 verpflichtete die Vertragsstaaten zum Eingreifen.
Ruanda ist bis heute der klarste Beleg dafür, dass die UNO eine ständige Truppe benötigt. Damit sie auch dann zur Verhinderung oder Beendigung von Völkermord und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit militärisch handlungsfähig ist, wenn es unter den Mitgliedstaaten kein ausreichendes Interesse und keine Bereitschaft gibt, UNO-Soldaten und militärische Ausrüstung zur Verfügung zu stellen. Seit dem Völkermord in Ruanda gibt es eine Reihe weiterer Gewaltkonflikte insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, bei der die UNO trotz eines entsprechenden Beschlusses des Sicherheitsrats nicht oder nur sehr unzureichend handlungsfähig war, weil die Mitgliedstaaten sich weigerten, das benötigte militärische Personal und die Ausrüstung zur Verfügung zu stellen.
Bereits vor den Völkermorden von Srebrenica und Ruanda hatte UNO-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali in seiner im Mai 1992 vorgelegten »Agenda für den Frieden« betont, dass die UNO in erster Linie verstärkte und bessere zivile Instrumente zur Bearbeitung von Konflikten benötige. Boutros-Ghali hielt allerdings auch eine ständige UNO-Truppe unter gemeinsamem Kommando des Sicherheitrats und des Generalsekretärs für unverzichtbar.
Doch da die drei westlichen Vetomächte des Sicherheitsrats, USA, Frankreich und Großbritannien, Boutros-Ghalis Vorschlag rundweg ablehnten, musste sich die Abteilung für Peacekeeping-Operationen in der New Yorker UNO-Zentrale um die »zweitbeste Lösung« bemühen. In den Jahren 1993/94 wurden sämtliche UNO-Mitgliedsregierungen ersucht, nationale »Stand-by-Kontingente« an Soldaten, Waffen, Transportmitteln oder logistischer Ausrüstung zu definieren, die der UNO im Bedarfsfall schnell zur Verfügung stehen sollten. Auf diese Weise sollte wenigstens die Planungssicherheit für Peacekeeping-Operationen erhöht werden.
Doch auch dieser Ansatz scheiterte. Bis Ende 1993 erklärten sich zunächst lediglich 23 Staaten »im Prinzip« bereit, der UNO insgesamt rund 35’000 Soldaten nebst Ausrüstung anzubieten. Doch keiner dieser Staaten machte diese prinzipielle Bereitschaftserklärung auch in Form einer formalen Vereinbarung mit der UNO verbindlich. Und auf das dringende Ersuchen des DPKO, sich an einer Blauhelmtruppe für Ruanda zu beteiligen, reagierten alle 23 Staaten negativ. Für den DPKO-Chef und späteren UNO-Generalsekretär Kofi Annan war das eine »bittere Enttäuschung«.
In den Jahren nach dem Völkermord von Ruanda erklärten zwar weitere 64 Mitgliedstaaten in Vereinbarungen mit dem DPKO in New York über sogenannte Stand-by-Kontingente ihre »prinzipielle Bereitschaft«, der UNO bei Bedarf Soldaten oder militärische Ausrüstung auszuleihen. Doch ausnahmslos alle Staaten behielten sich in den Vereinbarungen mit dem DPKO ausdrücklich das Recht vor, in jedem konkreten Fall einer UNO-Anfrage zu entscheiden, ob sie in diesem Fall tatsächlich Soldaten und Ausrüstung zur Verfügung stellten. Das grundsätzliche Problem, so DPKO-Chef Annan, sei denn auch weniger die Finanzierung von Operationen als »der fehlende politische Wille der Mitgliedstaaten«, im militärischen Bereich auch nur einen kleinen Teil nationaler Souveränität aufzugeben. Das ist bis heute unverändert das Problem, an dem die Aufstellung einer dringend erforderlichen ständigen UNO-Truppe scheitert.
1»In größerer Freiheit …«, www.un.org/Depts/german/gs_sonst/a-59-2005-ger.pdf; Zusammenfassung, www.un.org/Depts/german/gs_sonst/a-59-2005-exesumm.pdf (sämtliche Websites in diesem Buch wurden im März 2021 zuletzt geprüft).
2Text der Agenda 2030: www.un.org/Depts/german/gv-70/band1/ar70001.pdf
3www.tdh.de/was-wir-tun/arbeitsfelder/kinderrechte/meldungen/gut-leben-global
Corona und Klimawandel – größte Herausforderungen für die Weltgemeinschaft
»Unsere Welt steht vor einem gemeinsamen Feind: COVID-19. Das Virus macht keinen Unterschied zwischen Nationalität oder ethnischer Zugehörigkeit, Gruppierung oder Glauben. Es greift alle an, unerbittlich. Währenddessen wüten bewaffnete Konflikte auf der ganzen Welt. Es ist an der Zeit, bewaffnete Konflikte zu beenden und sich gemeinsam auf den wahren Kampf unseres Lebens zu konzentrieren. Deshalb rufe ich heute zu einem sofortigen globalen Waffenstillstand in allen Teilen der Welt auf.« Mit diesem Appell wandte sich UNO-Generalsekretär Antonio Guterres im März 2020 an die Mitgliedstaaten und die Weltöffentlichkeit. Vergeblich. Keiner der damals laufenden Kriege und Bürgerkriege wurde beendet. Im Oktober 2020 wiederholte der UNO-Generalsekretär seinen Appell. Erneut vergeblich.
Dem Generalsekretär blieb zum Ende des 75. Gründungsjahrs der UNO nur eine düstere Bilanz: »Konflikte, Klimawandel und COVID-19 haben zur größten humanitären Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg geführt«, erklärte Guterres im Dezember 2020 und bat die Mitgliedstaaten geradezu flehentlich, endlich deutlich mehr Geld als zuvor bereitzustellen zur Bewältigung der akuten humanitären Krisen. Zudem müsse »die Weltgemeinschaft mehr daran arbeiten, die Ursachen von Konflikten und Katastrophen zu bekämpfen. Denn der Klimawandel sorgt für mehr Brände, Überschwemmungen und heftige Stürme und verschärft damit Konflikte um lebenswichtige Ressourcen.« Das ist keine neue Erkenntnis. Dennoch blieben über 140 der 193 UNO-Mitgliedstaaten 2020 hinter ihren Verpflichtungen zur Umsetzung des Pariser Klimaabkommens von 2015 zurück. Wird die Corona-Pandemie längerfristig zu mehr globaler Solidarität führen und damit auch zu mehr multilateraler Kooperation im Rahmen der UNO? Oder wird diese globale Herausforderung Verteilungskonflikte verschärfen und den Trend zur egoistischen Durchsetzung nationalstaatlicher Interessen verstärken? Die Entwicklungen im ersten Jahr der Pandemie deuten eher in die negative Richtung.
Von globaler Verflechtung zu globalen Bedrohungen
»Globalisierung« ist seit vielen Jahren einer der am häufigsten benutzten Begriffe in der Sprache von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien. Er bezeichnet die immer engere weltweite Verflechtung in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Politik, Kultur und Medien. Der Begriff kam Anfang der neunziger Jahre auf, als dieser Verflechtungsprozess, der in Teilen der Welt schon lange vorher begonnen hatte, nach dem Wegfall der Ost-West-Spaltung auch bis dato verschlossene Länder und Regionen der Erde erfasste und sich zudem infolge neuer technologischer Entwicklungen und Kommunikationsinstrumente rasant beschleunigte.
In der ersten Hälfte der neunziger Jahre war erstmals auch die Rede von »globalen Herausforderungen oder Bedrohungen«. Auf der UNCED, der ersten großen Weltgipfelkonferenz der UNO nach Ende des Kalten Krieges, die sich 1992 in Rio de Janeiro mit Umwelt- und Entwicklungsfragen befasste, wurden die schon länger drängenden Probleme Hunger und Armut als globale Herausforderungen oder Bedrohungen eingestuft.
Die Staats- und Regierungschefs der teilnehmenden 178 UNO-Staaten berieten auch über die globale Erwärmung und Maßnahmen zu ihrer Begrenzung. In dieser Frage hatte der bereits 1988 gemeinsam vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und der Weltorganisation für Meteorologie eingesetzte Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen (IPCC), in dem rund 2000 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus aller Welt mitarbeiten, für ein wachsendes Problembewusstsein unter den Teilnehmern des Rio-Gipfels gesorgt.
Erfolgreiche Klimaverhandlungen