Spiegelungen. Anne Dorn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anne Dorn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943941265
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Schuhe.

      Wie neugierig ist Minza, welche Tümpel schon zugefroren sind! Es fängt mit den Wegpfützen an: Man kann die Eisfladen umdrehen und die seltsamen Erhöhungen und Vertiefungen als Gebäudeteile ansehen, sich Eisschlösser zurechtdenken! Auf dem Graben neben der Allee richten die Kinder eine Schinderbahn ein. Der Enkel des Hauswirts mit seinen frisch besohlten Stiefeln befreit durch Tritte und Hacken die Eisoberfläche von eingefrorenen Schilfrohrresten.

      Aber niemand gleitet so dahin wie Lukas! Holzpantoffeln sind, das wissen alle, zum Schindern das Beste.

      Es ist den Kindern streng verboten, das Eis auf dem Ziegeleitümpel zu betreten. Das Wasser füllt eine tiefe Grube, aus der man über Jahre hin den Lehm zum Ziegelbacken geholt hat. Die Lehmgrube hat hohe Ufer mit Binsengras und Gebüsch wie ein Dorfteich. Aber da ist noch ein Schienenstrang, auf den die Loren geschoben worden sind. Er kommt vom Feld her und führt im Bogen an der unverschilften Uferseite ins Wasser hinein und weiter entfernt – mitten im Tümpel – aus dem Wasser wieder heraus. Die Kinder wissen: Entlang dem Eisen bildet sich das erste Eis.

      Die großen Jungen – nicht Lukas! – haben im Vorbeigehen gefrorene Lehmbatzen mit Wucht auf das Eis geworfen, auf das im Wasser verschwindende Schienenpaar. Die Lehmbatzen sind zerplatzt, der Lehm ist auf der blanken Fläche zerstoben. Es sieht so aus, als habe wer das Eis schon betreten.

      Minza hat sich heute verspätet, Lukas hat lange gewartet. Jetzt macht er sich am Abhang zu schaffen, aus dessen Rändern die anderen den Lehm gebrochen haben. Minza kommt angerannt, ihre Schulsachen poltern im Ranzen. Sie umgeht rasch die Lehmgrube und sieht auch Lukas. Und sie sieht die Lehmspuren auf dem Eis.

      Übermütig, ihrem Freund zuliebe oder zuleide – denn beides ist für Minza noch eins – geht sie noch einmal zurück, tänzelt über die Schienen, dem Tümpel zu. Lukas schreit: »Minza! Lass das!« Wie wohl das tut, wenn er ihren Namen ruft! Er schreit noch einmal «Minza!« und muss ihr zeigen, dass er ihr sehr, sehr böse ist. Er wendet sich ab. Wenn er nicht zuschaut, wird sie die Dummheit lassen. Sie muss in die Schule! Die anderen sind schon auf der Landstraße.

      Lukas geht und geht und geht – und dreht sich um und rast zurück: Minzas Ranzen hält ihren Körper wie ein Schwimmblase! Vielleicht hält sie sich mit Händen oder Füßen an einem Schienenstück unter dem Wasser …

      Diese eiseskalten, abgesackten Bögen verlaufen nicht allzu tief unter der Wasseroberfläche. Minza schreit nicht, heult nicht, fiept nur wie ein junger Hund. Sie reißt Mund und Augen auf. Ihre Zöpfe haben schon dünne, splittrige Eishülsen. Lukas bettelt: »Minza – warte bitte!«

      Er stürzt den Abhang hinunter, wirft seinen Ranzen ans Ufer, betritt die Schienen – und tritt sofort wieder beiseite. Beim ersten Schritt auf die scheinbar rettenden Stränge sackte Minza tiefer. »Warte, warte doch!«

      Lukas weiß keinen Rat. Seine Minza erstarrt, ist stumm vor Entsetzen. Könnte er doch sehen, wie es unter dem Wasser ausschaut! Laut klagt er: »Minza! Minza!« In seiner Not wirft er sich an eine der Weiden nahe dem Tümpelrand. Die Weidenzweige hängen mit ihrer zähen Rinde fest am Stamm, Lukas tritt und trampelt in einem irren Anlauf einen Ast los.

      »Minza – halte dich fest.« Sie antwortet etwas, sehr leise, und Lukas steht am Ufer. Der Ast ist viel zu kurz, er liegt auf der dünnen Eisdecke zwischen Lukas und Minza. Es ist keine Zeit, eine Brücke zu bauen. Minzas Gesicht ist weiß wie Schnee. Lukas rennt in den Tümpel hinein. Im Schlamm gibt es Kalmuswurzeln und zu Bündeln verfilztes, dürres Röhricht.

      Lukas tritt zu und weiter, Gott weiß wohin. Er schaut nur auf Minza. Sie ruft ihn jetzt: »Lukas!« Er hält den Ast, steht bis zu den Hüften im Wasser. Jetzt wirft er ihr das feste Ende des Astes zu und packt selbst die Zweigspitzen. Minza versucht, zuzugreifen, ihre Hand taucht auf, ihr Mund, ihre Nase, ihre Augen, ihre Stirn und ihre Haare tauchen unter.

      Lukas springt zu. Das Eis splittert, Wasser quirlt in gelben Wirbeln. Die Eisenschienen wippen und patschen am Uferrand, wo sie die Erde berühren. Lukas taucht aus dem Wasser auf. Er kippt um. Taucht wieder auf. Er schleppt Minzas Mantel und darin wohl Minza und daran noch ihren Ranzen und darunter Minzas Beine mit den Schnürstiefeln an den Füßen.

      Lukas ruft und schreit. Er legt Minza auf den gefrorenen Lehm, legt seinen Kopf an ihr Herz. Er behaucht ihr Gesicht und ruht mit seiner Wange an ihrer Wange. Minza atmet.

      Lukas schreit sie an: »Komm! Du musst kommen!« Er richtet Minza auf. Sie läuft. Ganz automatisch. Als sie aus der Vertiefung aufs freie Feld kommen, vereisen in Windeseile ihre Finger, ihre Ohren, ihre Haare. Die Kleidung der Kinder erstarrt. Minza bleibt stehen. Lukas schüttelt sie, boxt auf sie ein. Er hüpft von einem Fuß auf den anderen. Er hat seine Holzpantoffeln verloren.

      Lukas weiß sich nicht mehr zu helfen. Er wirft Minza auf den Boden und rollt sie hin und her, rollt sich selbst zusammen, dass die gefrorene Hose und die brettsteife Jacke knisternd brechen.

      Und endlich setzt der Schmerz ein! Die eisumhüllten Gliedmaßen schmerzen in einer Weise, dass Lukas und auch Minza um ihren Verstand kämpfen. Sie bäumen sich auf und laufen. Es ist nicht weit. Hinter dem Zaun am Waldrand, im windtoten Winkel, fühlen sie sich fast schon zuhause. Es kommt ihnen warm vor. Lukas weiß: Nur ja nicht stehen bleiben! Beiden ist es plötzlich sehr leicht zumute, als könnten sie schweben. Ihm ist das unheimlich. Er nimmt Minza wie einen Sack über den Rücken, es geht jetzt nur noch bergab.

      Minzas Mutter zerrt beide sofort in die Küche und umarmt beide. Und lässt sie sofort wieder los, um Wasser aus der Warmwasserpfanne im Herd zu schöpfen. Sie wirft Salz in die Wanne. Und nun kaltes Wasser, vor allem kaltes! Lukas rennt schon und holt welches von der Pumpe. Die Mutter zieht Minza aus, Lukas rennt in der nassen, verlehmten Kleidung ins Freie. Minzas Mutter dankt ihm laut für das kalte Wasser. Sie taucht ein Tuch in den Eimer, reibt Minza ab, bettelt dabei Lukas an: »Zieh dich aus! Du holst dir den Tod!« Lukas nickt und hilft, Minzas Füße zu reiben. Die sind gelb. Minzas Mutter wird laut: »Zieh dich aus, Lukas, wenigstens die Strümpfe und die Hosen und die Jacke!« Die handgestrickten Strümpfe aus grober Wolle massieren Lukas’ Beine. Er fühlt schon wieder seine Zehen.

      Er steht da in den gewalkten Filzschuhen von Minzas Vater. Minza weint. Sie schämt sich und will nicht vor Lukas’ Augen in die Zinkbadewanne. Die Mutter sagt: »Er muss auch da rein!« Minza wimmert, es zuckt und reißt in ihren Händen und Füßen. Die Mutter lässt sie in der Wanne und gibt Lukas Tee. Er trinkt und schweigt. Er ist so unaussprechlich müde. In seinem Haarschopf kleben Espenblätter. Es sind oblatendünne, ausgelaugte Blattgerüste. »Lukas! Ins Bett!«

      Er geht. Aber nicht ins Nebenzimmer, in dem Minzas und ihres Bruders Betten stehen. Er steigt die Treppe hoch, zieht den Schlüssel aus der Hosentasche, schließt auf, aber nicht ab und kriecht in sein Bett. Eine gnädige, rosa Düsternis fällt von den bemalten Wänden auf Lukas nieder. Er hat es geschafft.

      Minzas Mutter sorgt dafür, dass Minza schläft. Dann nimmt sie das Doktorbuch aus dem Schrank und liest, was man tut, wenn einer erfrieren will. Oder ertrinken? Alles hat sie richtig gemacht, ohne das Buch. Dann entsinnt sie sich an Speisen für Gerettete. Warm müssen sie sein – und leicht. Die Brühe! Oder der heiße Holundersaft. Ein Eierkuchen! Die Mutter betrachtet Minza, wie sie schläft. Sie denkt sich selbst ins eisige Wasser, ringt für Minza um Luft – und denkt auch an Lukas.

      Sie geht die Treppe hoch in die fremde, kalte Wohnung und findet ihn. Auch er schläft. Anders als Minza glühen ihm die Wangen. Er hat noch seine Hosen, sein Hemd und vermutlich die Wollstrümpfe am Leib. Es riecht dämpfig im Zimmer. Die Mutter sagt sich, es gibt auch die Möglichkeit, feuchte Umschläge anzuwenden, damit das Fieber in Grenzen bleibt. Freilich gehört dann der Kranke in ein warmes Zimmer!

      Geradezu heilig und unersetzlich für jeden Kranken ist immer der Schlaf. Dieser Lukas! Was für ein Bursche! Minzas Mutter wird ihm Strümpfe stricken, zum Wechseln. Aus weicherer, besserer Wolle. Und da fällt ihr ein, dass ein Baumwolltuch, leicht angefeuchtet, und darüber ein Wolltuch, um den Oberkörper gewickelt, einer Lungenentzündung entgegenwirken. Gott, die Minza war so bleich! Die Mutter eilt treppab. Im Flur fragen die Frauen: »Was ist?« Wenn Minzas Mutter das wüsste!

      Wickel. Fieberthermometer.