Die Türme der Stadt winkten. Und dann sah Minza die hellgraue Jacke auf dem Ponton stehen. Ein Mann ohne Kopf stand da, der die Jacke aufknöpfte und mit der rechten Hand an der Jackettkante entlangfuhr, den rechten Jackenzipfel hochschob und die Hand in die Hosentasche steckte, dabei den Bauch vorstreckte und in den Knien wippte – das war Minzas Vater. Er kam nähergeschwebt in der dämonischen Stille der Schubbewegung ohne Schaufelrad, bekam einen Kopf, nahm die Hand aus der Hosentasche und stand stramm auf dem Landungssteg. Minzas Mutter fuhr wieder in ihre Schuhe.
2
Oft hat Minza gesehen, wie die Mutter zur Wohnungstür trippelt und dem Briefträger öffnet. Mit Briefen in der Hand kehrt sie zurück, legt rasch etwas beiseite oder hält es fest. Die handbeschriebenen Umschläge sind es, welche die Mutter heraussucht. Sie bohrt ihren kleinen Finger unter den Klebefalz und dann – zsch – zsch – das Papier fetzt. Dann dieses hastige Auffalten des Briefbogens, die lesenden, hin- und hereilenden Augen. Mutters Schneidezähne packen die Unterlippe. Oder ihr Mund bleibt leicht geöffnet. Am schlimmsten ist es, wenn ihr Mund zuklappt und ihre Augen über den Briefbogen hinweg geradeaus starren.
Minza weiß, wo die Mutter Vaters Anzug ausbürstet. Sie geht bei gutem Wetter mitsamt dem Anzug in den Garten. Hinter dem Bienenhaus gibt es eine windstille Ecke, die Mutter glaubt sich dort aus aller Menschen Augen. Die Kleiderbügel mit Jackett und Hose hängt sie an Holunderzweige und beginnt, die Taschen umzukrempeln. Etwas fällt stets in ihre Hände, sie durchfingert und durchfühlt es und legt es auf das Gesims des Kellerfensters: Taschentuch, Taschenmesser, Bindfaden. Minza erschrickt jedes Mal über das Erschrecken der Mutter: In Vaters Anzug findet sie Zettel! Die hält die Mutter lange ins Sonnenlicht. Oder einen Korken: Was bedeutet der Schriftzug auf seiner Rundung? Ein Kamm: Die Mutter fährt Zinke für Zinke mit den Fingernägeln ab und betrachtet danach den Mulm, der in ihren Fingern bleibt. Die Mutter findet auch eine korinthengleiche, vertrocknete Beere in der Taschentuch-Tasche seines Jackets bemerkenswert, wirft sie dennoch beiseite. Minza merkt sich, wohin das kleine Ding geflogen ist, und findet es später. Was hat sich die Mutter gedacht beim Befühlen und Beschnuppern?
Geschnuppert wird auf jeden Fall: In die Taschentuch-Tasche, unter die Ärmel, ja selbst in die Hosen. Dann folgen die Schläge mit dem Klopfer und diese unerbittlichen Bürstenstriche. Manchmal auch gar nichts. Gleich beim ersten Fund rafft sie die Kleidungsstücke und Klopfer und Bürste zusammen – danach diese hart aufgesetzten Tritte. Im grasigen Erdreich kann man noch lange die Löcher, die ihre Absätze hinterlassen haben, betrachten.
Minza ähnelt ihrer Mutter. Die ist warm und weich, hat gelocktes Haar, eine helle Stimme und von ihr sagen die Leute: »Was für eine schöne Frau!« Die Mutter ist auch ein Mensch mit lustigen Einfällen. Einen Blumenkranz setzt sie Minza auf den Kopf, dem kleinen Bruder hängt sie den Kranz wie eine Schärpe schräg von der Schulter über den Leib. Wenn Minza mit der Gießkanne die Wäsche auf dem Bleichrasen besprengt, immer zwei Schritte hinter der Mutter, dann kann die sich plötzlich umdrehen und Minza begießen, statt der Bettbezüge, und ihr Kind saust dann quiekend, barfuß über die ausgebreiteten Tischtücher, worüber die Mutter laut lacht.
In der Dämmerstunde tritt die Mutter leise auf, schließt die Tür, geht ruhig her und hin, zeigt mit ihrer abendlichen Verwandlung, wie sehr ein Mensch dem Auf- und Untergehen der Sonne nahe ist. Minza kann es nicht in Worte bringen, aber gerade so etwas wie die Dämmerstunde, das ist mit der Mutter schön. Die suchenden Finger dagegen – da gibt es etwas, was die Mutter vergiftet. Sie ist dann genau wie der Hund des Hauswirts. Den hat man im vergangenen Sommer tückisch umgebracht. Er lag an der Kette, fletschte die Zähne, selbst wenn sein Herr ihm Futter brachte, und dann sah er unbeschreiblich traurig aus. Seine Augen wurden starr, seine Pfoten zuckten, ein langes, schreckliches Wimmern kam aus seinem zitternden Körper.
Es ist Minza auch ein Rätsel, weshalb die Mutter weint, sooft Tante Vera auftaucht. Nein, wenn die Tante fröhlich plappernd mit den Eltern spazierengeht, weint die Mutter nicht. Es passiert erst nach dem Besuch. Genauso passiert es, dass der Mutter Tränen in die Augen schießen, sobald der kleine Trupp – Minzas Mutter, Minza selbst und der kleine Martin – die Wohnung der Großeltern verlässt. Spätestens an der Straßenbahnhaltestelle wird die Mutter überrannt von starkem Zittern, dazu knirscht sie mit den Zähnen. Tante Vera ist Mutters jüngere Schwester, sie wohnt noch bei den Eltern, Minzas Großeltern. In ihrem Zimmer gibt es eine kleine Empore, auf der ein Klavier und ein Bücherregal stehen. Außerdem schläft sie in einem Himmelbett mit orange-blauen Vorhängen, auf denen Paradiesvögel auf- und abfliegen. Das größte Möbel in ihrem Zimmer ist aber ein Kleiderschrank!
Wenn die Mutter, Minza und Martin von zuhause aus aufbrechen, sind alle fröhlich. Sie besuchen die Großeltern gern. Minza trägt ihr Sonntagskleid, der kleine Bruder seine Samthosen. Man bringt den Großeltern etwas mit: ein Körbchen Pfifferlinge oder Steinpilze (Minza kriecht leidenschaftlich gern ins Unterholz und findet alles!) oder eine Milchkanne voller Heidelbeeren oder Brombeeren. Man fährt mit dem Bus bis zur Eisenbahn, mit der dann bis in die Stadt und dort noch ein Stück mit der Straßenbahn. Die Großeltern haben die Postkarte pünktlich erhalten, Großmutter wartet mit Eierkuchen. Minza und Martin stürmen sofort auf den Balkon, um einmal die Welt von oben zu sehen. Die Spatzen stieben erschreckt aus ihren Nestern und Minza und der Bruder hängen, so weit es irgend geht, vornübergebeugt auf den Petunienkästen: Da – da unten ist der Hof, dahinter sind die Schrebergärten und quer vor dem Himmel der Rangierberg. Großmutter und Mutter schreien: »Kommt zurück! Werdet ihr wohl eure Nasen …« Aber Minza folgt ihren Rufen nicht gern.
Wenn der Eierkuchen gegessen ist, steht die Großmutter auf und nimmt die Mutter bei der Hand: »Jetzt muss ich dir erst mal zeigen, was Vera sich wieder angeschafft hat!« Auch die Kinder sind neugierig. Oder was ist es, was Minza zwingt, mitzugehen? Sie weiß, dass die Mutter erstarren wird und leer vor sich hinnicken. Tante Vera ist Prokuristin in einem Holzgroßhandel. Sie lässt sich ein Kleid nach dem anderen nähen, trägt pelzverbrämte Mäntel und seidene Strümpfe. Die Großmutter bekommt von Tante Vera Kostgeld, Tante Vera ist für die Großeltern wie eine Prinzessin, in deren Reich ein Eckchen für beide frei ist. Und jetzt wird der Kleiderschrank geöffnet: »… nun guck doch mal das Lindgrüne hier, oder das gestreifte Kostüm! Das hat sie noch nicht getragen, sie muss nächste Woche zur Handelskammer!« Arme, arme Mutter! Was ist nun dein Samtkleid, was sind deine einzigen, dunkelblauen Pumps? Minza sieht wieder, wie Mutters Unterlippe sich unter der Oberlippe verkriecht.
Manchmal bleiben sie über Nacht. Abends kommt der Großvater vom Dienst, er arbeitet bei der Eisenbahn im Hafen. Großmutter hat gekocht und gebacken, die Mutter hat ihr geholfen, aber Großvaters Magen kann knurren, so laut er will, man wartet auf Tante Vera. Sie kommt, wäscht sich in ihrem Zimmer, nimmt dann auf einem besonderen Stuhl an der Stirnseite des Tisches ihren Platz ein, sitzt auf einem Kissen.
Es gibt aber auch etwas, worum Tante Vera Minzas Mutter beneidet: Die Mutter hat eine eigene Familie. Tante Vera hat schon oft Freunde gehabt, aber noch nie einen Mann. Kinder hat sie erst recht nicht. Davon redet die Mutter manchmal bei der Heimreise: »Sie hat Geld wie Heu, aber was nutzt ihr das? Man kann ja nicht zehn Kleider übereinanderanziehen.«
Nun steht etwas Schreckliches in Aussicht: Tante Vera wird heiraten. Minza hat gelauscht, als die Mutter im hohen, spitzen Ton dem Vater erklärte: »Es ist eine Schande! Er wird es nicht wissen, wie viele sie schon gehabt hat, aber sie muss nun eben auch das noch haben. Kinder will sie, alles will sie, sie will wirklich alles …«
Die ganze Familie ist eingeladen. Minza im neuen Kleid, die Mutter hat sich fast totgekräuselt, wie sie sagt, denn an dem neuen Kleid befinden sich drei Etagen Volants. Der kleine Bruder trägt einen Matrosenanzug.