Den Berg hinunter und dann einfach vor sich hinsehen, im Ohr das Geräusch des Baches, wie er fallend die kleinen Biegungen entlang des Fichtendickichts schafft, bis er sich gurgelnd in die tönerne Röhre zwängt und unter der Straße her dem Flüsschen zuläuft.
Der Tauwind weht. Minza hört in der Nacht die Bäume ächzen. Am Nachmittag begleitet der kleine Bruder die Mutter ins Dorf. Minza läuft, als die beiden verschwunden sind, zum Flüsschen. Von dem Punkt aus, an dem der Bach einmündet, führt ein Weg am Ufer entlang. Zunächst könnte dort ein Wagen fahren, später wird der Weg sehr schmal. Felsen engen das Flussbett ein und wer sich weiter vorantraut, muss Schritt vor Schritt überlegen, worauf er seine Füße setzt.
Minza ist diesen Weg oft genug gegangen, sie geht rasch, auch wenn die Felskanten nass und schlierig sind, geht zur Not auf allen Vieren. Hinter dem Nadelöhr aus Fels tut sich ein kleines Seitental auf. Oft hat Minza dort gespielt, Tümpel aufgestaut, Weißfischchen, Elritzen und Forellen aus dem Fluss gefangen und in ihrem Wasser wieder eingesetzt. Seit längerer Zeit kommt es ihr nicht mehr darauf an, etwas wie einen geheimen Schatz zu besitzen, beispielsweise diese Fischchen. Lieber sitzt sie jetzt neben dem Bach und beobachtet dessen Grund, das dichtgepackte, faulende Laub. Oder dort, wo das Wasser sich rasch bewegt, den Tanz der stecknadelkopfgroßen Sandkörnchen. Sie will nicht wahrhaben, dass der kleine Fluss stirbt.
Heute geht sie eilig auf die Verengung im Flussbett zu. Eine Esche hat vor einiger Zeit den Halt auf dem Fels verloren, der Baum hat sich übers Wasser geneigt. Minza balanciert gern. Das Wasser kommt auf die Felsnase zugeströmt, scheint zu ermüden, drängt sich aber stattdessen am anderen Ufer in hoher Geschwindigkeit durch das Flussbett. Neben und unter der gestürzten Esche steht es ruhig und nahezu schwarz. Es ist dort auch tief.
Das schwarze Wasser spiegelt seine Umgebung, selbst bleibt es verschlossen. Einmal möchte Minza wissen, was die Schwärze und die wechselnden Gerüche des Wassers verursacht. Die Eltern sagen: »Das Wasser im Fluss ist vergiftet!« Könnten sie ihre Tochter sehen, würden sie schreien. »Bist du verrückt? Komm von dem Baum runter!«
Sie wird leichtsinnig, greift nach einem Ästchen, holt aus der Rocktasche ihr Taschenmesser, schneidet das Ästchen ab und versucht, ein Pfeifchen daraus zu machen. Wenn im Frühling der Saft unter der Rinde steigt, lässt sich – nachdem man die Rinde von außen konsequent beklopft hat – diese Hülle vom holzigen Kern lösen. Dann trennt man durch einen Schnitt ein pfeifchenlanges Stück vom Ast, dreht die Rinde auf dem Holz, schneidet, bevor man sie abzieht, eine Kerbe in beides, zieht das Holz aus der Hülle, schneidet noch einen kleinen Pflock von diesem Holz und setzt ihn als Mundstück ein. Minza arbeitet zu hastig. Das Messer, mit dem sie die Rinde beklopft hat, fällt ins Wasser. Sie hat es vor Jahren auf einer Kirmis von der Großmutter erbettelt. Ein sehr feines, scharfes, perlmuttbesetztes Messer. Es hatte gut in Minzas Rock- oder Hosentaschen Platz.
Vorsichtig dreht sie sich mit dem Rücken zum Fels, packt ein Büschel winterhartes Gras, beugt sich tief, damit der Reflex des schräg einfallenden Nachmittaglichtes gebrochen ist und die Tiefe unterm Wasserspiegel sichtbar wird: Blätter. Ästchen. Steine.
Sie nimmt den Zweig, von dem sie das Pfeifchen abgetrennt hat und stochert damit im Schlamm. Blasen steigen auf, und da!, etwas Helles! Sofort greift sie zu. Und zuckt zurück: Sie hat etwas Weiches, Körperhaftes berührt. Auf dem Grund zwischen aufgewirbelten Blättern hat sich etwas bewegt. Minzas Finger kleben, sie schlenkert ihre Hand im Wasser und genau dort droht ihr mit geblecktem Gebiss und tiefen Augenhöhlen der Schädel eines Hundes! Fellreste halten Hals und Kopf noch verbunden. Das Weiße, das hell aufblitzte, als sie zugriff, waren des Hundes Rippen.
Sie starrt da hin, wo die Teile des toten Tieres ruhig wieder versinken. Die faulenden Blätter schieben sich wieder über den Kadaver, aber nun entziffert Minza die hellbraunen Unebenheiten auf dem Grund nahe dem Ufer als Fell, die weißen Punkte als Teile von Knochen.
Es schaudert sie. Sie hat die Stimme der Nachbarin im Ohr: »Die Butterfrau liegt am Wehr!« Und wie eilig hatten es die Leute, ans Wehr zu rennen! Sie erzählten, man habe die Butterfrau an einen Baumstamm gelehnt. Als sei es möglich gewesen, dass sie sich erholt hätte und zurückgekehrt wäre ins Leben.
Minza klettert über dem grausigen Fund den Hang hoch. Was ist, wenn das Grasbüschel, an dem sie sich festhält, aus dem Boden reißt? Der Fels bildet weiter oben, ehe er sich zum bewaldeten Hang buckelt, schmale Terrassen. Minza zieht sich auf solch einen Balkon und kniet nieder: »Veilchen!« Vor ihr, gerade da, wo sie ihre Finger in die Erde gegraben hat und Halt gefunden, blühen und duften Märzveilchen!
Der Schrecken hat ihren Pulsschlag beschleunigt, die Freude nimmt diesen Takt für sich in Besitz. Tief unten liegt der Tod, liegt im Wasser, tut, als könne er lachen! Es gibt keine Worte dafür, wie Minza den Veilchen dankt, dass sie blühen! Und nun springt sie quer am Hang entlang von einem kleinen Balkon zum anderen, forscht mit den Augen und den Händen nach weiteren, hoffnungsvollen Zeichen. Maiglöckchen bilden dicht unter der Erde kegelige Triebe, und wenn man das kleine Krautzeug so gut kennt wie Minza, dann fühlt man am Trieb, ob das Pflänzchen blühen wird oder nicht. Sie findet fünf Blüher, löst sie mitsamt Wurzelgeflecht vom alten Standort und trägt sie zu ihren Veilchen, um sie dort einzugraben.
Sooft es ihr gelingt, bei Tageslicht den Anforderungen der Eltern zu entwischen, läuft sie zu ihrer Felsterrasse und bahnt einen Weg abwärts von der Felskuppe bis zu ihrem Platz. Schlüsselblumen, Scharbockskraut, Leberblümchen. Minza sieht die noch in ihren Blattrosetten versteckten Blüten schon in leuchtenden Farben. Sie schafft mit den Händen Erde von benachbarten Vorsprüngen dorthin, wo sie ihren Blumen nützt. Sie holt auch Erde von tiefer gelegenen Balkonen. Immer beobachtet sie den Fluss, ob sich sein Wasser nicht klären will. Vorsichtig lässt sie sich abwärtsgleiten, zieht ihre Jacke aus, fasst den unteren Rand oder die Ärmel, schöpft mit der Kapuze Wasser. Sie muss rasch den Hang hochklettern, damit ein Teil des Wassers dort in die Erde rinnt, wo es ihren Pflanzen nutzt. Drei Mal besteht sie diese, sich selbst abverlangte Prüfung. Vom Schöpfen gerät das Wasser in Bewegung, der tote Hund zeigt ihr wieder sein Gebiss, hell leuchten die Zahnreihen der langgestreckten Ober- und Unterkiefer.
In diesem Frühjahr wird die bislang so schweigsame Minza gesprächig. Sie verrät der Mutter, dass sie in einem anderen Land arbeiten möchte, zumindest für eine gewisse Zeit. Mehr um sich umzusehen, sagt sie den Eltern. Noch geht sie zur Schule. Erschrecken solche Pläne die Mutter? Es könnte auch sein, dass ihr Kind in der Nähe bleibt, nur anders leben will. Wie anders, weiß Minza nicht wirklich. Sie sitzt mitunter, wenn sie am späten Nachmittag aus der Schule kommt, etwas entfernt vom Haus, in dem sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder wohnt, auf einem Baumstumpf und sieht, dass schon Licht im Wohnzimmer brennt. Es wird Bratkartoffeln geben und saure Gurken. Sie hält lange auf dem Baumstumpf aus, weil sie das Licht sieht.
Wenn der Vater seine Tochter Zigeunerin nennt, kann er neuerdings lächeln. Minza repariert dem Bruder einen Riss, der quer durch den Ärmel seines neuen Hemdes läuft. Der Bruder erneuert den brüchigen Draht an ihrer Fahrradlampe. Es scheint so, als wäre Minza gern zuhause und weniger gern allein.
Der Mai kommt. Die Buchen haben lichtgrüne Blätter. Schon tragen die Ebereschen Blütendolden. Die Mutter lädt ihre Tochter zum Kinobesuch in der nahen Kleinstadt ein, Minza schlägt sofort vor, über den Wurzelweg und dann weiter die Landstraße entlang zu laufen. Durch den Wald gehen beide schweigsam. Manchmal, für Augenblicke, Hand in Hand. Minza schert plötzlich aus, nähert sich dem Steilhang zum Flüsschen von oben her. Wie sie sich umdreht, sieht sie, dass die Mutter ihr folgt. Minza immer vorweg – und dann stehen beide oberhalb von Minzas Felsengarten. Die Mutter umarmt – einen jungen Baum. Beugt sich vor, damit sie besser sehen kann. Diesen bunten Flecken mitten im Wald.
Und nun müsste sie wissen, dass ihr Kind sich gebückt hat, gemüht um jede Krume, um jede Pflanze, um jeden Sämling. Wasser dort geschöpft, wo doch der tote Hund liegt, geschöpft hat und unvorsichtig eilig den Hang hochgebracht, in ihrer Mütze oder auch nur mit beiden Händen …
Sie hat sich schon umgedreht. In der Nähe schrickt ein Reh. Und da geht sie schon wieder, vorn, auf dem Weg! Minza kann es nicht glauben. Bleibt einfach am Hang sitzen, lässt Stolz und Traurigkeit toben. Ein Glück neuer Art,