Der Offizier redete, und Minza horchte mit fest zugepressten Augen nur auf die Glucks- und Fauchgeräusche in dem Manne unter dem weichen Tuch. Seine Stimme war gut und friedlich und passte zu seinem Geruch.
Nach einer Weile öffnete er eine andere Tür. Die Metallklinke drückte in Minzas Kniekehle. Und dann war es ganz still. Minza wusste, dass sie den Mann loslassen musste. Er stellte sie auf den Boden. In diesen Raum drang Tagesdämmerlicht, er befand sich hinter anderen Aufbauten in der Mitte des Schiffes. Minzas Mutter lag hier in braune Decken gewickelt auf einer Bank. Das schreckliche Blau war fort. Sie lächelte, genau wie sie hinter der grün-weißen Tischdecke gelächelt hatte. Wieder hatte Minza Scheu, zu ihr hinzugehen, dachte, sie dürfe das auf gar keinen Fall. Ihre Hände fuhren am Rand ihres Gabardinmäntelchens entlang, sie wunderte sich, dass sie nicht tropfte und ihre Strümpfe nicht klebten. Sie setzte sich auf den Stuhl genau dem Gesicht der Mutter gegenüber. Deren Hand kam unter der Decke vor. Da stand Minza auf und schlängelte ihre Kinderhand unter die Finger der Mutter. Die drückte plötzlich und für Minza schmerzhaft mit ihren blassen Fingern zu. Schnell beugte sich Minza vor, gab ihr einen Kuss. Die Decken und die Mutter selber rochen fremd. Minza machte sich kerzengerade und rangelte rückwärts, wieder hoch auf den für erwachsene Menschen gebauten Stuhl.
Längere Zeit saß sie da. Ihre Beine baumelten. Draußen rutschten die Felsen vorbei, nur ihre Felsfüße. Bauchige Wände aus Braun und Grau und manchmal Gelb. Schiffsgäste liefen über das Deck an den Fenstern vorbei, aber stets mit starr abgewandten Köpfen. Sie befanden sich also auf dem Fluss, zwischen Felswänden, mitten auf dem Schiff, zwischen den Schaufelrädern, den grünweißen Aufbauten und den Leuten mit Rucksack, Wanderstöcken und Hüten. Minza saß mitten in diesem Drumherum ganz allein – und da waren noch braune Wolldecken und darin die Mutter. Sie hörte unter sich die Maschinen stampfen. Durch die Stuhlbeine fuhr das Zucken der Kolben. Ein Aschenbecher klirrte. Er rutscht, dachte Minza, aber er rutschte nicht. Es war ein kleiner Rettungsring aus Porzellan mitten auf dem Tisch. Sie fasste ihn an, wie ihre Großmutter alles Porzellan immer anfasste und umdrehte, um das Porzellanzeichen zu sehen. Schräg vor ihr, auf der niedrigen Bank, lag die Mutter, hielt die Augen offen und sah zur Decke, an der eine Petroleumlampe baumelte. Ruhig wechselnd sah Minza zur Mutter und dann zur Decke, sah das dunkelbraune Holz mit den schwärzlichen Astknoten. Sie horchte zur Lampe hoch, auf irgendein Drahtklingeln, und sah zugleich, dass eine einzelne, trockene Haarlocke ihrer Mutter regelmäßig wippte.
Der Offizier stand fest vor dem Fenster neben der Tür. Etwas entfernt von ihm lehnten zwei Leute über das Geländer. Minza sah ihre Rucksäcke und ein gelbes Kopftuch, das der Wind ab und zu hochstellte zur Zipfelmütze. Der Mann trug eine Strickmütze. Er zog eine Landkarte weiter und weiter auseinander und die Frau hielt den Rand der Karte fest.
Ein grün-weißer Bausch flog auf die Kajütenfenster zu. Ein Kellner bückte sich danach, und Minza sah, wie er die Tischdecke draußen, weiter im Hellen, auf einen Tisch mit Nickelklammern festklemmte. Manchmal bewegte sich der Offizier, sein Tuchrücken sah dann etwas verändert aus. Minza wünschte sich, er solle sie rufen – aber er drehte sich immer nur so weit um, dass er ihre Mutter auf der Bank beobachten konnte.
Allmählich beschlugen die Fensterscheiben. Minzas Mutter fragte, ob Minza ihr Täschchen habe. Die zog es am Henkel aus der Manteltasche und zeigte, mehr als das Täschchen, ihre beiden Hände und ihre ganze, spinnige Gestalt, indem sie sich vor die Mutter hinstellte und sie ruhig anschaute. Die Mutter hatte ein Tuch um ihr Haar geschlungen. Sie weinte plötzlich, ohne dass sich ihr Gesicht irgendwie bewegt hätte. Die Tränentropfen waren das einzige Bewegliche an der ganzen Mutter.
Ihre Reglosigkeit unter der Decke war gespenstisch, wie der Stillstand der Stahlkolben gewesen war. Die schöne Mutter! Minza gehörte zu ihr und durfte allein bei ihr in der Kajüte sitzen. Niemals vorher zuhause oder irgendwo hatte Minza sie so unbedingt für sich, ohne Ablenkung, ohne dass sie etwas gesagt oder getan oder gewollt hätte – nicht einmal wenn sie schlief, war die Mutter bedingungslos da, Minza musste dann leise laufen, um sie nicht zu stören.
Minza saß auf dem Stuhl. Der fremde Schal war der Mutter vom Kopf gerutscht, ihr Haar neben der geknüllten, roten Seide war strähnig verklebt. Minzas Schuhe fielen ihr von den Füßen. Erst polterte es einmal, dann noch einmal. Die Mutter bewegte sich nicht. An der Stuhllehne entlang rutschte Minza tiefer. Sie wünschte sich den Druck des warmen, schweren Armes der Mutter auf ihren Kopf, vermisste auch den Geruch der Achselhöhle ihrer Mutter, den sie sonst nicht mochte. So streckte sie beide Beine aus und schob ihre Füße unter die Decken, die man der Mutter gegeben hatte.
Das Licht wechselte. Die Felswände hatten nun Lücken, manchmal fing das Himmelblau direkt über den Bäumen hinter den Uferwiesen an. Mutter und Kind glitten im dämmrigen Glaskasten über den Fluss, langsam, weiter, immer weiter, weiter weg, weg von allem, auch von der Stadt weg, dachte Minza, weil sie nicht auf die Stadt zufahren wollte. Sie sah durch die halbbeschlagenen Scheiben das Licht zwischen den Felswänden, und dann wieder besah sie die Holzdecke mit den Astlöchern und der Petroleumlampe über sich. Vor ihr, auf der Bank, wie in einem Bett und wie zum Schlafen hingelegt immer weiter die Mutter.
Stille und Stummheit wurden Minza allmählich vertraut. Zuhause, das Wohnzimmer, war ähnlich dämmerig wie die Kajüte hier, ja, wenn Rauch in diesem Zimmer schwebte war das genauso wie hier in der Kajüte. Manchmal, wenn Minza die Tür zum Wohnzimmer aufriss und wenn über der Blumenkrippe vor den Gardinen Rauchstreifen stiegen oder sanken, wenn sie richtig sehen konnte, wie der Rauch von ihrem Türaufreißen auseinanderfuhr, wenn sie der Mutter »Hier! Vergissmeinnicht« auf den Tisch warf, nicht darauf geachtet hatte, ob ihre Schürze schief geknöpft und Lehm an ihren Schuhen war, wenn die Mutter dann nicht sofort etwas sagte, sondern erst die gedrückten Blumenstengel auf dem Tisch auseinanderfallen ließ, wo doch Minza wartete, dass sie etwas sagen würde – dann sah Minza einen anderen Mann. Er hieß Rudolf, wie auch Minzas sehr geliebter Großvater hieß. Aber dieser Rudolf hatte ungelüftete Kleider. Minza wusste, wo er wohnte. Er lebte mit seiner Mutter zusammen in einer kleinen Wohnung, und diese Mutter hinkte und war arm und strickte für die Leute. Rudolf trank. »Der säuft ja!« hieß es im Dorf. Minza konnte Rudolf nicht leiden. Darüber sprach sie nicht mit ihrer Mutter. Sie hasste es nur, wenn die Leute über ihre Mutter und Rudolf sprachen.
Auf dem Schiff, in der Kajüte, wollte Minza der Mutter so gerne Himmelsschlüssel auf die braune Wolldecke streuen. Sie hätte hier stillgehalten und Minza hätte ihr die gelben Blumen auf den braunen Decken schön zurechtgelegt. Aber die Himmelsschlüssel fuhren lautlos in den grünen