»Als Truppe wie damals sehen wir uns nicht mehr, Sophie. Tagelange Wanderungen von Ort zu Ort sind für Miguel und mich nicht möglich, und schon gar nicht, unter freiem Himmel zu übernachten wie früher. Im Herzen sind wir jung geblieben, aber der Körper spielt da nicht mehr mit«, wandte auch Rosa bedauernd ein. Sophie schaute Enzo unsicher an. Sollte sie ihm die sichere Lebensgrundlage hier in Paris entziehen? Wovon wollten sie unterwegs leben? Zwar besaß sie noch einige écus d’or von Dom Frollo, aber auch bei sparsamem Gebrauch würde das nicht ewig reichen, vor allem im Winter müssten sie ein Quartier bezahlen.
»Mir bleibt leider nichts anderes übrig, als Paris zu verlassen. Simon kann nicht unter so vielen Menschen leben. Aber, Enzo, ich möchte dir nicht zumuten, das alles hier aufzugeben. Doch ich will auch nicht verhehlen, dass ich es nicht wage, als Frau allein zu reisen, selbst wenn Simon stark ist und mich beschützen könnte, aber er ist auch menschenscheu. Vielleicht könntest du mich bis in die Nähe von Chartres begleiten, wo ich in der Lage wäre, eine kleine Bleibe zu mieten oder zu kaufen, vielleicht mit einem Garten für Gemüse und Kleinvieh. Das könnte den Lebensunterhalt für Simon und mich sichern.
»Ich reise auf alle Fälle mit Euch, wohin auch immer, Madame Paloma! Und wenn Ihr Euch nahe Chartres ansiedeln wolltet, wäre ich bereit, allein bis in die Bretagne weiterzuwandern, um Dom Frollo wiederzusehen.«
Enzo, im Grunde eher zurückhaltend, ereiferte sich richtiggehend. Für ihn war es vielleicht ein Abenteuer, auf alle Fälle aber freute er sich, Sophie helfen zu können. Sie legte die Hand auf seine Schulter und schaute ihn dankbar an. Wie erwartet, wurde es zu spät, um nachts noch zur Notre-Dame zurückzukehren. Sophie fühlte sich um Jahre zurückversetzt, als sie sich auf ihr ehemaliges Lager begab, das sie in dieser Nacht mit Isabelle teilte. Die Holzliege roch gleich wie damals, in der Matratze knisterte frisches Stroh. Hier hatte sie nach Jahren der Wanderschaft mit Esmeralda Frieden gefunden. Von der Schenke kam gedämpftes Lärmen. Auch das fühlte sich heimatlich an. Isabels ruhiger Atem ließ sie endlich auch selbst zur Ruhe kommen und Schlaf finden. Beim Abschied am folgenden Morgen vereinbarte sie, Enzo zu benachrichtigen, sobald sie aufbrechen mussten.
Ein junger Ordensbruder, Thaddäus, teilte sich bereits seit einigen Wochen den Glockendienst mit Simon. Sophie half bei den Erläuterungen und schärfte ihm ein, unbedingt die Wachsstöpsel zu verwenden, damit er nicht, wie ihr Sohn, das Gehör verliere. Der Orden konnte also jederzeit anordnen, den Turm zu räumen, Simons einziges Zuhause, seinen Zufluchtsort. Nachdenklich eilte Sophie über den Place de Grève, der in all den Jahren nichts von seiner Düsterkeit verloren hatte. Ihn zu überqueren hieß, das Grauen angesichts des Galgens und Prangers zu verdrängen. Jeder Pflasterstein sprach von Angst und Blut der hier Verurteilten. Wie eine Sinnestäuschung vernahm Sophie plötzlich ein leises Lallen. Doch niemand war zu sehen. Das dünne Stimmchen kam Sophie bekannt vor. Lauschend blieb sie stehen. Da war es wieder: »Ist die Sängerin und ist es nicht. Ist die Mutter und ist es nicht. Ist die Klausnerin und ist es nicht …«
Sophie schauderte es. Hörte sie am hellen Morgen Gespensterstimmen? Dieses wimmernde Lallen klang nicht menschlich. Es kam aus der schattigen offenen Klause am Rolandsturm. Sie ging hin und entdeckte eine skelettartige Gestalt, die in einem Haufen aus Laub und Sand lag, welche ins Eck dieser Vertiefung geweht worden waren. Wäre da nicht die fahle Haut, hätte man das Bündel Mensch gar nicht erkannt, so sehr ähnelte es den abgestorbenen Blättern. Da fiel es Sophie wie Schuppen von den Augen.
»Schwester Gudule?«
»Hihi«, lachte es dünn zurück.
Wie konnte diese Frau überhaupt überlebt haben? Unglaublich, dass ausgerechnet sie die leibliche Mutter ihrer geliebten Esmeralda war. Sophie wünschte sich, diese Begegnung nicht gehabt zu haben. Sie konnte das Geschöpf in der offenen Klause nicht ignorieren, aber sich darum kümmern konnte sie noch weniger, es plagten sie genug eigene Sorgen. Einige Augenblicke lang stand sie am Rand der Mulde und kämpfte mit sich. Zu Simon auf den Turm zu eilen war alles, was sie wollte, aber die Sterbende einfach liegen zu lassen, brachte sie nicht übers Herz.
»Schwester Gudule, kommt mit mir, Ihr braucht etwas Stärkendes, eine warme Suppe vielleicht und einen Umhang, Ihr habt ja kaum etwas, womit Ihr Eure Blöße bedecken könnt.«
Als sie sich hinabbeugte, um der Frau aufzuhelfen, fand sie, dass eine ordentliche Waschung wohl auch vonnöten sei.
»Paquette hat einen Schatz, einen wertvollen Schatz«, brabbelte die Schmächtige und öffnete die linke Hand, in der zwei schmuddelige Knäuel lagen. Sophie schauderte es. Trotz der grauen Färbung und zerfransten Struktur erkannte sie sofort die beiden ehemals rosafarbenen Säuglingsschuhe wieder, Esmeraldas Talisman und Erkennungszeichen für die Mutter.
»Schwester Gudule! Kommt in die Sonne, ich will Euch helfen«, bat Sophie. Diese Frau hatte nur die kleinen Seidenschuhe, sie selbst aber hatte die Liebe und Lebendigkeit der Tochter erleben dürfen. Auf Sophie gestützt erreichten sie den Galgen, auf den die Morgensonne schien. Zum Glück war er leer und um diese Zeit keine Menschenseele außer ihnen beiden auf dem Place de Grève. Sie lehnte die Klapprige an den breiten Pfosten, diese schloss die Augen und drückte die linke Faust ans Herz. Anscheinend hielt sie die beiden Seidenschuhe immer in der Faust.
»Hier kam das Mönchlein zur Klausnerin. Hier hat es sich in die schöne Agnès verwandelt. Hier hat die Trauernde ihre Tochter wiedergefunden«, murmelte sie. Sophie wusste nur zu gut, was sie meinte, denn Esmeralda war damals mit Frollos Hilfe im Mönchsgewand aus der Kathedrale geflohen, hatte sich dann bei den Klarissen versteckt, bis sie mithilfe der Äbtissin unter falschem Namen nach Chartres gebracht worden war. Eigenartig an dieser ohnehin verworrenen Tatsache war, dass Esmeralda nun denselben Vornamen trug, den sie einst von ihrer Mutter bekommen hatte, Agnès. Und auch diese war nicht immer Schwester Gudule gewesen, sondern eine begnadete Sängerin und Tänzerin in Riems, Paquette Chantfleurie genannt. Warum hatte das Schicksal sie ausgerechnet jetzt zusammengeführt, da sie an der Schwelle eines neuen Lebensabschnittes war und alle Kraft für Simon brauchte, der es nur schwer verkraften würde, den Turm der Notre-Dame zu verlassen?
»Ich will Euch helfen, Schwester Gudule, aber versprecht mir, nicht mehr von Eurer Tochter zu sprechen, mit niemandem, sonst schadet Ihr Eurem Kind. Versteht Ihr das?«
Die Angesprochene starrte Sophie aus leeren Augen an.
»Ist die Sängerin und ist es nicht. Ist die Klausnerin und ist es nicht. Ist die Mutter und ist es nicht und ist es nicht und ist es nicht«, brabbelte sie.
»Schweigt! Ich bitte Euch!«
»Ist die Sprecherin, doch keiner hört zu und keiner kann verstehen, keiner.«
»Das hoffe ich! Bleibt hier in der Sonne, ich hole Hilfe. Wenn Ihr weggeht, werde ich Euch nicht suchen, ich habe wahrlich anderes zu tun. Bleibt also hier, Schwester Gudule.«
Diese lächelte nur vor sich hin und reckte ihr graues Gesicht in die Sonne. Sophie eilte zurück zum ›Hof der Wunder‹. Sie wusste, dass Trouillefou niemals erlauben würde, die ehemalige Klausnerin aufzunehmen, denn Verschwiegenheit war von ihr nicht zu erwarten, doch Sophie besaß ja noch etwas von Frollos Geld. Einen Teil davon könnte sie für die leibliche Mutter ihrer Esmeralda verwenden und damit ihr Gewissen beruhigen. Zwar trug sie keine Schuld daran, Esmeraldas Mutter geworden zu sein, doch sie hatte alle Freuden mit dem Kind erlebt, während Gudule am Schmerz des Verlustes zerbrochen war. Das allein verpflichtete sie, der Bedauernswerten zu helfen. Im Quartier traf Sophie nur Rosa an, alle anderen waren längst zu ihren Tätigkeiten unterwegs. In kurzen Worten war die Notlage geschildert.
»Im Augenblick habe ich nur zehn écus bei mir. Das muss reichen, um für Schwester Gudule eine ordentliche