ist meine Seele wie entseelt.
Es glotzen mich an unheimlich blöde
die Larven der Welt! Der Himmel ist öde,
ein blauer Kirchhof, entgöttert und stumm.
Ich gehe gebückt im Wald herum.«
Mit dieser Passage sank er in süße Melancholie des Alleinseins. Der schöne Blumenkranz lag gedanklich noch auf seinem Haupt, doch er war verwelkt, kratzte an der Stirn und machte Altersfalten deutlich. Und genau das motivierte ihn, die Datei mit dem Manuskript zu suchen. Was für ein Chaos auf seinem Computer! Er wollte alles ein letztes Mal Korrektur lesen und es dann an den Verlag schicken. Bestimmt machte es einen guten Eindruck, wenn er nicht postwendend reagierte.
Leon kam am folgenden Tag kurz nach zwölf Uhr. Albert konnte sich kaum beherrschen, nicht von der eventuellen Zusage des Verlags zu erzählen, doch solange es kein eindeutiger Vertrag war, wollte er sich lieber nicht exponieren. Gemeinsam bereiteten sie Kaiserschmarren zu, Albert rührte den Teig, Leon öffnete die Packung mit Rosinen und das Glas Apfelmus.
»Auf meinem Schreibtisch liegt die Schallplatte ›Oskar Werner liest Gedichte‹. Wenn ich eine neue Nadel für meinen Plattenspieler auftreibe, können wir uns die ›Waldeinsamkeit‹ anhören, das gefällt dir bestimmt. Oskar Werner macht mit seiner einzigartigen Sprachmelodie die Worte lebendig!«
»Also diesen Kinderkram mit Nixen und Wichtelmännchen – ich weiß nicht. Aber anhören können wir uns das gleich, auch ohne Nadel. Du bist ja so was von retro, Papa!«
»Wie meinst du das?«
»Na auf YouTube.«
»Oskar Werner auf YouTube? Der ist ja schon Anfang der Achtziger gestorben, außerdem dachte ich, da gäbe es nur moderne Lieder und so.«
»Moderne Lieder und so – echt, du könntest im Kabarett auftreten. Auf YouTube findest du sogar Vorträge über alle möglichen Themen. Was wetten wir, dass ich deinen Werner finde?«
»Oskar Werner. Das wäre wirklich schön, es heute schon mit dir anhören zu können! Wir wetten darum, wer den Abendfilm auswählt.«
»Na gut, dann schauen wir heute Abend ›Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger‹, den haben wir zwar vor Kurzem schon geschaut, aber ich finde ihn einfach spitze.« Leon grinste. Nach dem Essen schaute Albert seinem Sohn zu, wie er mit wenigen Klicks auf YouTube ein Bild von Oskar Werner auf den Monitor zauberte, genau das gleiche wie auf dem Schallpattencover. Und schon hörten sie seine unvergleichliche Stimme. Albert fühlte sich beschenkt wie ein Kind, doch auch Leon konnte dem Text damit einiges abgewinnen.
»Ich hab’ in meinen Jugendtagen
wohl auf dem Haupt einen Kranz getragen;
Die Blumen glänzten wunderbar,
ein Zauber in dem Kranze war.
Der schöne Kranz gefiel wohl allen,
doch der ihn trug, hat manchem missfallen;
ich floh den gelben Menschenneid,
ich floh in die grüne Waldeinsamkeit.«
»Was fällt dir spontan dazu ein, Leon?«, fragte Albert nach einer Pause. »Aber du sagst auch, was dir einfällt und nicht nur, was du alles darüber weißt, sondern ganz subjektiv, okay?«
Albert nickte. Assoziationsspiele mochte er.
»Mir fällt ein, dass sich dieser Heine gerne als Frau verkleidet, so richtig mit wehendem Gewand wie seine Feen. Und dann spaziert er im Wald herum.
»Warum als Frau verkleidet?«
»Na ja, mit dem Blumenkranz?«
»Und wofür könnten die Blumen und ihr Zauber eine Metapher sein?«
»Dass der Heine Esoterik mag?«
»Sag einmal, Leon, willst du mich auf den Arm nehmen?«
Der lachte hell auf. »Ich dachte schon, du bemerkst es nie. Aber sag du, was fällt dir dazu ein?«
»Willst du wirklich meine ehrliche Empfindung wissen?«
Leon nickte.
»Als ich gestern das Gedicht durchgelesen habe, wollte ich unbedingt wieder Gedichte schreiben, so wie damals während meines Studiums. Ich war auch in einem Lyrikzirkel und träumte davon, Gedichte zu veröffentlichen. Meine Vorbilder waren Rilke und Heine, aber auch Pablo Neruda.«
»Urspannend.«
Leon deutete ein Gähnen an. Albert grinste.
»Aber echt. Im Kranz findest du vielschichtige Bedeutungsansätze.« Er holte etwas aus, erzählte vom Archetypus des ›Gekrönten Monarchen‹, von der entwicklungspsychologischen und anthropologischen Sichtweise von Blumenkränzen, Ritualen, vom Kranz als Ausdruck der Dichtkunst und von der Romantik, deren sogenannter ›blauen Blume‹ unerfüllter Sehnsucht und schließlich vom begrenzten Dasein, von Jugend und Alter. So sehr ereiferte er sich, dass er das leise Schnarchen an seiner Seite lang nicht wahrnahm.
»Leon!«, rief er dann aber halb verärgert, halb amüsiert. Dieser zuckte hoch.
»Ist der Film schon aus?«, stammelte er, bevor ihm wieder alle Sinne gehorchten.
»Ich rede mir den Mund fusselig und du schläfst?«
»Ist spät geworden gestern, sorry. Du, ich bin am Verdursten!«
Er eilte in die Küche und trank zwei Gläser Wasser. Albert grinste.
»Hast wohl einen Brand.«
»Aber woher denn?«
Dann räumten sie die Küche auf. Als der Geschirrspüler eingeräumt war, konnte sich Albert dann doch nicht verkneifen zu sagen: »Drück mir die Daumen. Ein Verlag möchte, dass ich mein Manuskript einsende, du weißt ja, meine Version des ›Glöckner von Notre-Dame‹.«
»Cool! Mein Vater als Buchautor!«
»Na ja, hoffen wir es mal.«
Erst jetzt spürte Albert Erwartungsfreude in sich.
»Am Nachmittag machen wir unbedingt noch ein wenig ›Waldeinsamkeit‹«, erinnerte er, als sich Leon in sein Zimmer zurückzog.
»Müssen wir leider, schließlich ist das Gedicht urlang und das Wochenende urkurz«, murrte dieser.
Kapitel 2
M
adame Paloma! Wie gut, Euch endlich wieder einmal zu treffen! Monsieur Trouillefou bittet Euch um eine Unterredung. Sagt mir, wann Ihr wieder zu uns ins Quartier kommen könnt, er will dann für Euch da sein. Und grüßt Quasimodo bitte von mir. Geht es ihm gut?«, redete Enzo Lesable Sophie am Markt an. Auch sie freute sich, ihn zu sehen.
»Gerne komme ich heute Abend, um Monsieur Trouillfou zu treffen. Meinem Sohn geht es so weit gut, danke, allerdings belastet es uns beide, dass ihn niemand mehr am Turm besuchen darf. Auch ich kann mich nicht mehr frei bewegen, seit Pater Gregoire Stadtvogt geworden ist. Ein Küchenbruder stellt uns täglich einen Korb mit Speisen vor die Tür zum Turm, damit ich sie nicht vom Markt holen und damit durch die Kathedrale gehen muss. Obwohl ich die Mutter des Glöckners bin, sollte man nicht sehen, dass ich mit ihm im Turm wohne. Stell dir vor, sobald ein neuer Glöckner eingelernt ist, müssen wir sogar den Turm verlassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Simon woanders als da oben glücklich wird, ohne seine Glocken und die Tauben.«
Enzo nickte traurig.
»Ja. Es gibt keine Freiheiten mehr, nicht einmal Darbietungen der Gaukler dürfen auf den großen Plätzen stattfinden und Zigeuner werden schon von Bütteln abgeführt, wenn sie nur die Fiedel auspacken. Wie sollen sie ihr Geld verdienen, um zu überleben? Dabei sehnen sich die Leute doch nach Musik und