Esmeraldas Geheimnis. Karoline Toso. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karoline Toso
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783956691386
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      Sie blickten einander vertraut an. Keiner der beiden hatte den ›Hof der Wunder‹ genannt, auch wenn sie gerade etwas abseits des Markttrubels waren.

      »Dann werdet Ihr also wieder bei uns leben, gemeinsam mit Quasimodo?«

      Enzo freute sich sichtlich.

      »Das ist es ja. Vorherige Woche bat ich Trouillefou darum, mit Simon wieder in unser Quartier zu ziehen, doch er zauderte, wollte sich mit Hyniadi Spicali beraten. Hoffentlich erteilt er uns keine Absage, denn ich wüsste nicht, wo ich mit meinem Sohn leben soll, du kennst ihn ja, menschenscheu wie er ist.«

      »Das wäre schlimm! Aber, Madame, falls Ihr nicht in Euren ehemaligen Räumlichkeiten leben könnt, möchte ich mit Euch kommen, wohin auch immer. Ihr habt mich von der Straße aufgelesen und mir nicht nur eine Familie, sondern ein würdiges Dasein geschenkt. Ich denke täglich dankbar daran, wie schön mein Leben geworden ist, seit mich Dom Frollo damals zu Quasimodo in den Turm geschickt hat.«

      »Ach ja, Dom Frollo.«

      Sie senkte den Blick. Seit ihre Esmeralda aus Paris flüchten musste, bemühte sich Sophie, den Priester und damaligen Archidiakon möglichst aus ihren Gedanken zu verbannen. Neben all den Sorgen verkraftete sie die Verwirrung rund um diesen düsteren Benediktiner nicht. Er hatte ihren Sohn gerettet und ihn liebevoll erzogen. Auch bei Esmeraldas Flucht hatte er geholfen. Und bevor er als Einsiedler in die Bretagne gegangen war, hatte er ihr und ihrem Sohn das Leben mit einer großen Geldspende gesichert. Dennoch, da war noch jener Vorfall auf dem Turm. Jedes Mal, wenn Sophie daran dachte, durchrieselte sie eine Kälte, als müsste sie innerlich erfrieren. Noch schlimmer war es aber, nicht zu wissen, wie es Esmeralda nun nach der Schändung und der Flucht ergangen war. Mutter Pauline, die Äbtissin der Klarissen, hatte nur mitteilen lassen, dass sie gesund in Chartres angekommen sei und als Agnès de Blancheforet den Duc de Valois geehelicht hatte. Mehr wusste sie nicht. Das brachte Sophie zum Denken. Wie konnte der Wildfang Esmeralda, die begehrteste Tänzerin unter allen Zigeunern, als Duchesse in einem Schloss leben? Hatten ihre Unterrichtsstunden in Etikette, Sprachen und im Schreiben, die sie dem Töchterchen als Kind erteilt hatte, ausgereicht, um sie diese Lebensrolle spielen zu lehren? Konnte Esmeralda ihren Freiheitsdrang und ihre wahre Identität erfolgreich überspielen? Und was, wenn nicht? Mutter zu sein hieß, sich zu sorgen, so würde es für Sophie wohl immer bleiben.

      »Was wohl aus der schönen Esmeralda geworden ist? Ich denke so oft an sie. Glaubt Ihr, sie konnte der Inquisition erfolgreich entfliehen? Bitte sagt mir, dass sie in Sicherheit ist!«

      »Lieber Enzo, für sie, aber auch für mich ist es gefährlich, auch nur ihren Namen zu nennen. Aber ich verstehe deine Sorge nur zu gut. Versprich mir, sie nie wieder zu erwähnen, Spitzel gibt es leider überall. Aber ja, sie lebt in Sicherheit weit weg von hier«, flüsterte Sophie. Enzo atmete erleichtert auf.

      »Wisst Ihr, woran ich manchmal gedacht habe? Dom Frollo war der erste Mensch, der, seit ich denken kann, großzügig zu mir war. Ich würde ihn so gerne wiedersehen, mit ihm sprechen, ihm stolz zeigen, was durch seine Hilfe aus mir geworden ist, und dass ich durch Euch, Madame Paloma, sogar ein wenig lesen und schreiben kann. Wenn er schon nicht nach Paris kommen kann, möchte ich ihn in seiner Einsiedelei besuchen. Bald haben wir Sommer. Falls Ihr mit Quasimodo nicht bei uns im Quartier leben könnt, reisen wir zu Fuß in die Bretagne. Vielleicht schließen sich Eure ehemaligen Truppenmitglieder an, dann können wir mit Darbietungen unterwegs unser Brot verdienen.«

      Sophie war verwundert. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass Enzo ahnte, warum Trouillefou sie sprechen wollte. Es ging darum, geheim zu halten, wo sich der ›Hof der Wunder‹ befand, was sich mit einem Bewohner wie dem Glöckner, ihrem Sohn Simon, schwierig gestalten würde. Selbst wenn er das Quartier kaum verlassen würde, wollte er sich bestimmt auf den Dächern der Wohnhäuser aufhalten, um weiterhin Kontakt zu seinen Tauben zu pflegen. Somit wäre er für die Stadtwache wie ein Signal, das sie endlich zum lang gesuchten Zufluchtsort aller Rotwelschen führen würde.

      »Du hast ja Einfälle, lieber Enzo! Heute, nach dem Gespräch mit Trouillefou, werde ich zu euch ins Quartier kommen, da können wir über alles in Ruhe reden. Ehrlich gestanden freue ich mich sehr, alle wiederzusehen. Was kannst du mir über Pierre Gringoire erzählen und über Djali?«

      Enzo lachte.

      »Unser Pierre philosophiert nur noch mit den Tieren, vor allem mit Djali. Sie sind die Einzigen, die sein unausgesetztes Gequassel ertragen können, doch sie lieben ihn. Hühner und Ziegen gedeihen unter seiner Obhut prächtig. Wir leben in wahrem Reichtum, haben Eier, Ziegenmilch und ab und zu gebratenes Huhn, im Winter mitunter sogar Ziegenfleisch, weil es sich in solch einer Kälte länger lagern lässt.«

      »Das ist schön! Ich freue mich auf euch. Bestell für heute Abend einen großen Krug Wein in der Schenke bei euch, damit wir unser Wiedersehen feiern können.« Sie gab ihm fünf Sol.

      »Wunderbar! Isabelle wird weißes Brot backen. Das wird ein richtiges Fest!«

      Als Sophie die Stufen zum Turm hochstieg, dachte sie über Enzos Vorschlag einer Wanderung nach. Dom Frollo zu besuchen widerstrebte ihr zwar, aber sie könnten nach Chartres gehen oder zumindest für ein paar Tage dort verweilen. Natürlich würde sie nichts unternehmen, was für Esmeralda eine Enttarnung bedeuten könnte, aber in ihrer Nähe zu sein und auf Märkten vielleicht etwas über die Duchesse zu erfahren wäre wunderbar. In Paris breiteten sich zunehmend bedrückende Angst und Misstrauen aus. Jeder wirkte verdächtig, jeder konnte ein Spitzel der schwarz-weißen Vertreter der Inquisition sein, Dominikaner, die ihren Glauben als Hetzjagd gegen jegliches Vergnügen verstanden. Statt des regen Treibens auf den Plätzen, statt Zigeunermusik und Tanz, gab es vorwiegend stille Prozessionen dieser Gestalten, die ihre Augen und Ohren überall zu haben schienen. Schon ein zu lautes Lachen konnte verhängnisvoll werden. Der Gedanke, mit Simon im ›Hof der Wunder‹ zu leben, schien plötzlich kein erstrebenswerter mehr zu sein, doch von Ort zu Ort zu wandern wie damals, als sie selbst als Flüchtende bei Zigeunern aufgenommen worden war, weckte Freude und auch etwas Hoffnung in ihr.

      Oben schrieb sie ihrem Simon die Neuigkeiten auf, auch dass er an diesem Abend und vielleicht auch am folgenden Morgen allein am Turm bleiben müsste. Spät nachts vom ›Hof der Wunder‹ durch die Stadt zur Kathedrale zu gehen, erachtete sie als gefährlich. Seit Simon wusste, dass sie den Turm in absehbarer Zeit verlassen mussten, huschte kein Lächeln mehr über sein Gesicht, er hatte keinen Appetit und sprach kaum noch, obwohl sie das wegen seiner Schwerhörigkeit regelmäßig mit ihm trainiert hatte. Die Tauben drängten sich besonders an ihn, setzten sich auf seine Arme und Schulten, sogar auf seinen Kopf. Das machten sie immer, wenn er traurig oder verärgert war. Wie sie seine Gemütsverfassung errieten, blieb sein Geheimnis.

      ›Werden mich die Tauben finden, wenn ich nicht mehr am Turm bin?‹, schrieb er.

      Sophie zuckte mit den Schultern. Sie wollte ihm nicht auch noch mitteilen, dass Vögel ortsorientiert lebten und sich daher nicht an Menschen banden. Andererseits kamen sie auf seine gurgelnden Lockrufe. Vielleicht blieben ihm einige auf der Wanderschaft treu, denn das könnte seinen Abschiedsschmerz zumindest etwas mildern.

      Als Sophie an diesem Abend durch düstere Gassen und über verborgene Durchgänge die ersten Gebäude des ›Hofs der Wunder‹ erreichte, durchschauerte es sie. Dies war ihre Zuflucht gewesen und blieb dennoch ein geheimer Ort des Verbrechens. Von Ferne hörte sie kreischendes Lachen und dumpfes Grölen, so nahe war sie dem Zentrum des Reichs der Verlorenen und Vogelfreien. Bald roch sie schon Gebratenes, an manchem Eck wartete Erbrochenes darauf, vom nächsten Regenguss weggespült zu werden. Ratten tummelten sich darum. Bevor sie den Kaiser der Rotwelschen, Clopin Trouillefou, aufsuchte, wollte Sophie in ihre ehemaligen Räumlichkeiten, um die Truppenmitglieder von damals zu begrüßen.

      Wie erwartet, erklärte ihr Trouillefou später beim Gespräch unter vier Augen so umständlich und höflich, wie es ihm nur möglich war, dass ein Mensch wie Quasimodo den ›Hof der Wunder‹ früher oder später enthüllen würde. Deswegen könne Sophie nicht mit ihm in ihr ursprüngliches Quartier ziehen. Wie gut, dass Enzo den Vorschlag einer Wanderung gemacht hatte, denn diese Absage hätte Sophie sonst zu hart getroffen. Etwas nervös fragte sie anschließend ihre ehemalige Zigeunertruppe,