»So sei es, meine Liebe!«
Wie immer, wenn die Rede auf den längst erwarteten Erben kam, fühlte Agnès diese lähmende Schwäche. Der Druck steigerte sich zu einem stechenden Schmerz, ihr Hals war wie zugeschnürt, sie japste nach Luft. Als hinge das Wohl der ganzen Welt allein von ihr ab, fühlte sich die junge Duchesse gedrängt, einen Sohn zu gebären, und war dennoch überzeugt, daran zu scheitern. Mit ganzer Kraft versuchte sie, diese Stimmung vor der Schwiegermutter zu verbergen.
Sie wandelten im Park und sahen aus der Ferne die kleinen Unterkünfte der Knechte und Mägde. Mitten im Gehege für Kleinvieh hockte eine Gestalt in blauem Obergewand. Agnès lächelte, hoffte aber, dass Madame Veronique Claudine dort nicht entdecken würde. Es gab auch so schon genug Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Erziehung.
»Steht da nicht Eure Zofe Anouk am Zaun?«
Oje, dachte Agnès.
»Und wer kümmert sich dann um die Prinzessin? Oder weilt sie noch bei Schwester Maria Pilar im Unterricht?«
»Möglich.«
»Aber nein! Ich wage es kaum zu glauben, sitzt nicht Claudine mitten unter den Hühnern?«
»Gehen wir lieber zurück zum Schloss, Madame«, schlug die junge Duchesse vor.
Ohne Erwiderung eilte Madame Veronique aber zum Gehege. Anouk grüßte sie erschrocken mit einem tiefen Knicks.
»Was soll denn das? Wie könnt Ihr das Kind zu den Tieren lassen?«
Madame war außer sich.
»Claudine, was fällt dir ein, dich zu den Hühnern zu begeben? Komm sofort her, Anouk soll dich baden und umkleiden. Weißt du denn nicht, dass diese Tiere voller Ungeziefer sind?«
»Sei leise, grand-mère, ich unterhalte mich gerade«, erwiderte das Kind und legte den Zeigefinger auf seine Lippen.
Agnès kicherte verhalten, Madame Veronique war fassungslos.
»Was soll das heißen, du unterhältst dich? Mit wem denn?«
»Pst!«
»Versteht Ihr, was in das Kind gefahren ist, Madame Agnès?«
»Das sind doch nur Kinderspiele. Als ich in Claudines Alter war, liebte ich es, mich in die Gedanken der Tiere zu versetzen.«
»In die Gedanken der Tiere? Madame, Ihr könnt von Glück sagen, dass Euch jeder hier von Herzen schätzt, denn andernfalls wären Aussagen wie diese als Blasphemie zu werten, aber das solltet Ihr eigentlich wissen. Und ich dulde es nicht, dass sich meine Enkelin mit Hühnern unterhält!«
Da war sie wieder, die sonst nur noch selten erlebte Härte der Mutter des Duc. Bedauernd blickte Agnès ihr hinterher, wie sie allein zum Schloss zurückeilte. Bestimmt würde Claudines Erziehung wieder einmal Thema beim Abendmahl werden. Sie seufzte. Andererseits, vielleicht bedeutete das auch einen weiteren Besuch des Gemahls in ihren Gemächern, um die Angelegenheit unter vier Augen zu erörtern und um beisammenzuliegen. Am Vorabend hatte es ja fast einen Erfolg gegeben. Vielleicht könnte es diesmal gelingen. Sie sehnte sich danach, noch mehr aber wünschte sie, endlich von dem Druck befreit zu sein, den Erben auf die Welt zu bringen. Versonnen summte sie vor sich hin. Die Gedichte aus dem verbotenen Büchlein kannte sie längst auswendig und erfand dazu Melodien. Niemand konnte wissen, welche Verse ihr Herz in sich trug, wenn sie summte:
»Halte mich, du starker Baum,
deine Früchte sind mir Himmelsnektar.
Honig tropft mir auf die Lippen,
allein wenn du mich anblickst.
Geliebte, sprichst du so zu mir?
Deine Augen bezwingen mich,
dein Rosenduft macht mich dir ganz zu eigen.
Deine Stimme, Götterbotin,
ist mir die gute Nachricht,
lässt mich sicher schlummern.«
»Bebette möchte dich begrüßen, komm, setz dich zu uns, Maman«, unterbrach Claudine ihre Gedanken.
»Ich fürchte, das darf ich nicht, und du solltest auch nicht bei den Hühnern hocken. Unterhalte dich doch vom Zaun aus mit ihnen.«
»Das geht nicht. Bebette sagt, dass du arm bist, wenn du nicht hingehen darfst, wohin du willst, zum Beispiel hierher ins Gehege, wo die saftigen Würmer zu finden sind.«
»Ihr kostet bitte keinen von den Würmern!«, rief Anouk erschrocken. Sie reckte den Hals, um zu sehen, ob die Prinzessin womöglich einen Wurm zwischen ihren Fingern hielt.
»Aber nein, die gehören den Hühnern. Schau, Maman, Bebette kommt zu dir zum Zaun!«
Agnès hockte sich ebenfalls hin und reichte der braunen Henne zarte Löwenzahnblätter. Diese dankte es mit leisem Gackern, während sie die Blätter von ihren Fingern zupfte.
»Komm jetzt heraus, Claudine, Großmutter ist verärgert, weil du dich bei den Tieren herumtreibst.«
»Ich treibe mich nicht herum, sondern führe wichtige Besprechungen.«
»Na gut, Anouk, du kümmerst dich dann um das Bad und um ein frisches Gewand für Claudine.«
»Selbstverständlich, Madame.«
Lächelnd knickste die Zofe. Als die Duchesse hinter ihrer Schwiegermutter her ins Schloss zurückging, begegnete ihr der Schreiber Jean de Bouget.
»Ah! Du hältst wohl Ausschau nach der schönen Anouk, du Schelm!«, grüßte sie ihn. Erschrocken drehte sich der Angesprochene nach allen Seiten um.
»Madame! Nach all den Jahren schafft Ihr es noch immer nicht, ganz und gar Duchesse zu sein! Das kann uns Kopf und Kragen kosten, ich bitte Euch!«
»Und dass du meiner Zofe nachstellst etwa nicht, mein lieber Jean Frollo?«
»Was ist in euch gefahren, Madame? Bitte fühlt Euch nicht zu sicher. Wenn einmal auch nur ein Funke des Zweifels an Eurer Identität oder Loyalität der Kirche gegenüber aufflammt, ist aller Schutz dahin. Ich fühle mich ja selbst zerrissen und sehne mich nach dem alten Leben an der Seite meines Bruders, den ich schmerzlicher vermisse, als Ihr Euch vorstellen könnt.«
Das war das Stichwort, Dom Claude Frollo. Die Erinnerung an diesen Benediktiner erwischte Agnès wie ein Schlag in den Magen.
»Du hast recht, Jean. So viele Menschen haben alles riskiert, damit wir der Inquisition entfliehen können, das darf ich nicht aus Unbekümmertheit aufs Spiel setzen. Gehabt Euch wohl, Jean de Bouget, und grüßt mir Anouk, die Mühe hat, mein Töchterchen von den Hühnern wegzubekommen.«
Sie kicherte.
»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, schöne Esmeralda, die mit dem Ziegenbock tanzte. Was wohl aus Djali geworden ist?«, raunte er ihr zu, während sein Blick den Platz inspizierte, ob ihn auch niemand hören könne.
»Womöglich hat Pierre Gringoire ihn an Kindes statt angenommen.«
Jetzt konnten beide nicht anders als laut loszulachen. Erst als sie sich wieder etwas beruhigt hatten, setzte Jean seinen Weg fort. Agnès blickte ihm nach. Schmunzelnd dachte sie daran, wie er ihr mit zwölf Jahren einen Heiratsantrag gemacht hatte. Da war ihr Ziegenbock Djali noch klein gewesen, sogar der Ort fiel ihr wieder ein, Place de Grève in Paris mit der unheimlichen Schwester Gudule, der Klausnerin. Ob Jean eine Lösung für ihr Nachwuchsproblem darstellen konnte? Ihr Gemahl selbst hatte diese Überlegung ›Nachwuchs auf Umwegen‹ genannt. Bestimmt würde Jean ihr diesen Gefallen erweisen. Als Einziger hier wusste er von ihrem bisherigen Leben als tanzende Zigeunerin Esmeralda, er wusste auch, dass Claudine die Frucht einer Schändung war. Noch einmal wandte sie sich nach dem Schreiber Jean um und beobachtete, wie sich Anouk tief vor ihm verneigte.