»Maman!«, sagte er nur. Lange saßen sie schon auf der Wiese. Nicht einmal Paquette wagte es, die feierliche Stimmung zu stören. Eine Wolke schob sich vor die Sonne, Wind kam auf und wirbelte ihnen den Staub des Weges ins Gesicht.
»Setzen wir uns ein weinig weiter vorne zum Waldrand und schauen nach, was wir noch zum Essen in den Reisetüchern finden«, schlug Enzo vor. Sophie nickte. Noch einmal drückte sie Simons Hand. Man ließ sich am Waldrand nieder und überblickte, was es in den Reisetüchern gab. Enzo hatte noch ein Stück Brot und etwas Salz, Paquette begann zarte Löwenzahnblätter auf der Wiese zu sammeln und in Sophies Tuch fand sich ein weiteres Stück Brot und eine dicke Scheibe Käse vom Einkauf auf einem Bauernhof. Im Wald roch es überall nach Bärlauch, der allerdings bereits ziemlich ausgewachsen war, doch sie fanden noch einige genießbare Blätter. Bis sich Sophie von ihren Erinnerungen lösen konnte, war alles für ein erfrischendes Mahl vorbereitet. Sie aßen schweigend und tranken Wasser vom nahen Bach.
»Du bist der Enkel des Comte Simon de Mortain! Er war der beste Mensch, den man sich vorstellen kann!«, rief sie Simon ins Ohr und zeigte auf das Gelände und das prächtige Schloss in der Ferne, umringt von uralten Bäumen.
»Ich bin der Glöckner und dein Sohn«, versuchte er sie aufzumuntern, denn ihre Worte verstand er nicht, spürte aber, dass sie etwas Trauriges bedeuteten.
»Wir könnten im nächsten Dorf fragen, wer jetzt dort wohnt«, schlug Enzo vor. Sophie hatte Bedenken. Sie fühlte sich noch immer auf der Flucht und fürchtete, als ehemalige Gattin des Marquis de Sanslieu enttarnt zu werden, obwohl ihr gleichzeitig klar war, dass nach über neunzehn Jahren niemand mehr nach ihr suchen würde. Enzo konnte ihre Gedanken erraten und grinste.
»Glaubt mir, Madame Paloma, ich als ehemaliges Straßenkind weiß, wie man unbemerkt an Informationen gelangt.«
»Außerdem haben wir unterwegs noch kaum einen Sou ausgegeben. Wir könnten in einer Schenke essen und mit etwas Glück einen Schlafplatz bekommen, dabei erfahren wir bestimmt einiges über diese Grafschaft und ihre jetzigen Herren«, ergänzte Sophie lächelnd.
Mit dem Anblick ihres Elternhauses war der jugendliche Entdeckergeist wiedererwacht. Paquette zog stumm den écu d’or aus ihrer Gewandtasche und reichte ihn Sophie. Das wirkte unerwartet und grotesk, auch waren sie von der Reise bereits etwas erschöpft, jedenfalls brachen alle in schallendes Gelächter aus.
Der Gedanke, eine warme Mahlzeit serviert zu bekommen, war wunderbar. Doch sollte dies für die Gruppe ein erster Besuch in einer Schenke sein. Enzo kannte die rauen Sitten an solchen Stätten nur zu gut, hatte er doch als Straßenkind hinter einer der berüchtigsten Spelunken in Paris meist übernachtet. Die Schenke an der viel genutzten Kreuzung zwischen den Ländereien von Versailles und dem großen Bistum von Chartres wirkte heruntergekommen wie das Dorf selbst, Beauceville. Davor versammelten sich Weiber beim Brunnen. Das einzig Auffällige an diesem Ort mit den breiten Wegen in alle Himmelsrichtungen war ein Patrizierhaus mit riesigem Park und eigenem Brunnen unweit der Schenke.
Erst gegen Abend betrat Enzo erhobenen Hauptes und mit straffen Schultern die Gaststube. Dahinter erschien mit dem Selbstbewusstsein einer Herrscherin Sophie, Simon neben sich. Für ihn trat sie auf, als habe sie nie etwas anderes getan als geherrscht. Paquette trippelte hinterdrein und schaute sich irritiert um, als alles verstummte und auf die neuen Gäste starrte. Die kräftige Wirtin mit der Statur und dem Gehabe eines Mannes nickte zur Begrüßung und erwartete von Enzo die Bestellung. Dieses wortlose Selbstverständnis verstand er als Vertrauensvorschuss. Mit klarer Stimme sagte er: »Wir wollen speisen und zumindest eine Nacht beherbergt werden.«
»Im Schlafraum gibt es Matratzen, frisches Stroh daneben im Schuppen. Zurzeit nutzen das nur drei Knechte von Händlern, die aber morgen früh weiterziehen, also seid Ihr fast ganz unter Euch. Ein halber Sol pro Nacht für jeden von Euch. Zu essen gibt es Eintopf mit Brot, zu trinken Mischwein, auch verdünnt, wenn Ihr es wünscht. Bier habe ich nur rund um Weihnachten herum.«
Enzo blickte kurz zu Sophie, diese nickte.
»Wir nehmen einen Krug Wein und einen mit frischem Wasser gleich mit in den Schlafraum. Bringt uns die Becher und den Eintopf. Zahlen wollen wir dafür sofort.«
Sophie legte zehn Sol auf den Tresen. Auch die kleinste Geste wurde von den Männern in der Gaststube beobachtet. Niemand rührte sich.
»Das reicht für zwei Nächte und vier Mahlzeiten«, stellte die Wirtin fest und blickte dabei Sophie an, welche offenbar das Geld verwaltete.
»Danke«, antwortete Sophie mit souveränem Lächeln, sie war zufrieden. Innerhalb einer Stunde hatte die Neuigkeit im Dorf die Runde gemacht, ein schneidiger Bursche, eine Dame, ein schweigsamer Entstellter und eine Knochenfrau hatten sich in Betunias Schenke einquartiert. Kinder lugten durch die kleinen Fenster und tuschelten aufgeregt, wenn sie einen der Gäste zu Gesicht bekamen. Weiber versammelten sich scharenweise beim Brunnen und ließen den Eingang nicht aus den Augen. Wann immer einer aus der Schenke wankte, wurde er gleich mit Fragen überhäuft.
»Der Bucklige scheint taub zu sein und die schöne Madame kümmert sich ganz besonders um ihn. Der Jüngling ist leutselig, er hat uns erzählt, dass sie aus Paris kämen und sich in Chartres niederlassen wollten. Geld genug scheinen sie zu haben. Also ich würde mir mindestens zwei Knechte nehmen, wenn ich als Weib mit so viel Geld unterwegs bin. Gleich bei der Ankunft hat sie zehn Sol auf den Tresen gelegt, einfach so«, erzählte ein Knecht.
Enzo hatte sich bald schon mit mehreren Leuten aus Beauceville bekannt gemacht, vor allem auch die Wirtin Betunia besser kennengelernt, die längst nicht so rau und unnahbar war, wie sie sich gern gab.
»Das Anwesen dort oben, es ist ein prächtiges Schloss mit Ländereien. Wer residiert dort? Ist es ein milder Herrscher?«, fragte er sie einmal wie nebenbei.
»So war es vor vielen Jahren, mein Vater erzählte uns Kindern davon. Das Anwesen gehörte damals dem Comte de Mortain. Seine Gemahlin und die beiden Töchter waren immer freundlich und verstanden es, den Jahreszins herabzusetzen, wenn Trockenheit oder Hagel die Ernte vernichtet hatten. Soweit ich mich an die Erzählungen meines Vaters erinnere, führte die Geschäfte Madame Adèle de Mortain. Der Comte selbst reiste viel und wusste alles über die ganze Welt.«
Enzo verlangte nach einem weiteren Becher Apfelwein, um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen. In der Schenke gab es ein Kommen und Gehen von Bauern, die ihre Ernte gerade gut eingebracht hatten, oder von wandernden Gesellen, fahrenden Händlern oder Tagelöhnern, die ihre wenigen Sous gern mit anderen bei einem kräftigen Eintopf und reichlich Wein in der Schenke ausgaben.
»Hör mal, Hübscher, kennst du eigentlich meine Tochter Fatou schon?«, wechselte Betunia das Thema.
Er schüttelte irritiert den Kopf.
»Sie ist ein liebreizendes Kind. Dass sie nicht spricht, ist für manch wackeren Recken ein reiner Segen. Weiber neigen zu Geschwätzigkeit.«
Mit demselben Tonfall hatte die Wirtin tags zuvor den Hühnereintopf feilgeboten. Enzo wurde es etwas mulmig, tapfer forschte er aber weiter.
»Wohnt das Geschlecht de Mortain denn nicht mehr dort drüben auf den grünen Hügeln?«
»Nein, leider nicht. Der Comte wurde als Ketzer verbrannt, doch ich sage dir …«
Sie neigte sich so nah an ihn heran, dass er ihren Atem riechen konnte.
»Nie und nimmer war dieser Mensch ein Ketzer oder gar ein Hexer! Ah! Da ist ja meine liebreizende Fatou!«
Das Mädchen kam mit zwei Mägden von den Weinstöcken. Den Korb mit geschnittenen Reben und Unkraut stellten sie vor die offene Hintertür der Schenke. Enzo konnte nicht glauben, dass dieses zarte Geschöpf die Tochter der Wirtin sein sollte. Mit verlegen gesenktem Blick kam sie auf den Ruf der Mutter näher.
»Fatou!