„Wohin haben sie dich gebracht?“
„Ich weiß nicht, ich hatte die ganze Zeit einen Sack über dem Kopf, aber die Fahrt hat ungefähr zwei Stunden gedauert.“
„War es eine Stadt oder irgendwo außerhalb?“
„Ein kleines Dorf, glaube ich, anhand der Tiergeräusche, und es herrschte kaum Verkehr. Ich konnte nie aus dem fensterlosen Raum schauen, in dem sie mich untergebracht haben.“
„Wie sah es da drin aus?“
„Holzboden, gerissene Wände, ein Tisch mit zwei Stühlen in der Mitte. Ein Tisch an einer Wand mit einer Wasserkanne. Sie tranken davon, boten mir aber nichts an.“
Und so ging es weiter, bis Kynan ans Eingemachte kam.
„Wie haben sie dich gefoltert und wie oft?“, fragte er, ohne den Tonfall zu verändern. Es ging ihm nur um die Informationen, aus denen er etwas zu erfahren hoffte.
„Mehrmals am Tag, ungefähr neun Tage lang, soweit ich jetzt noch sagen kann. Schlafentzug die ganze Zeit, Hungern, laute Musik, Elektroschocks und Prügel.“
Kurz und bündig und emotionslos ratterte ich es herunter. Ich hatte trainiert, Folter durchzustehen. Zumindest bis zu einem gewissen Grad. Irgendwann gab jeder auf. Und das war auch keine Schande. Wichtig war, es ihnen nicht zu leicht zu machen, ihnen die am wenigsten schädigenden Infos zu geben oder bei dem Versuch zu sterben, und währenddessen über den Feind herauszufinden, was man nur konnte. Darin war ich erfolgreich gewesen, hauptsächlich, weil ich nicht viel wusste, was ich hätte verraten können. Glücklicherweise glaubten sie mir und hörten auf, mich zu foltern, schafften mich durch die Wüste in ein Loch, bis ich ihnen irgendwann auf andere Weise nützlich werden könnte.
Dann fragte Kynan nach der Kommunikation, wann die Wachen gewechselt hatten und ob ich noch etwas anderes in Erfahrung bringen konnte. Ich sagte ihm alles, was ich wusste, und wurde nicht einmal ungeduldig, als er manchmal dieselbe Frage zweimal stellte. Es war eine übliche Taktik, um meine Aufrichtigkeit zu testen und mir zu helfen, weitere Erinnerungen zu wecken.
Am Ende bedankte er sich bei mir und wiederholte, dass ich jetzt Dienst am Schreibtisch haben würde, bis die Therapie bei Dr. Ellery vorbei sei. Dann würde sie mich gesundschreiben.
Und jetzt gehe ich in ihr Büro.
Sie sitzt an ihrem Schreibtisch und sieht auf ihren Computer. Hinter ihr befinden sich Regale voller Fachbücher über Psychiatrie. An einer Wand stehen zwei gemütliche Sessel mit einem Tisch mit einer Lampe dazwischen. Ich bin froh, dass sie nicht diese klischeehafte Couch hier stehen hat.
Dr. Ellery meidet das Neonlicht des Industriegebäudes. Stattdessen hat sie überall Lampen stehen, die für ein beruhigendes Glühen sorgen. Ihr Büro ist das Einzige mit Rollos an den Scheiben. Wahrscheinlich, damit sie für Privatsphäre sorgen kann. Nicht, dass es mich interessieren würde. Ich nehme an, dass es sowieso nicht lange ein Geheimnis bleiben wird, dass ich zum Seelenklempner muss, bevor ich wieder in den aktiven Dienst darf. Das finde ich in keiner Weise peinlich.
Ich will nur verdammt noch mal nicht drüber reden müssen.
Darin besteht ein Unterschied.
Als ich an die Glastür klopfe, wendet sie mir ihren Blick zu. Lächelnd winkt sie mich herein. Die Tür schwingt hinter mir von allein wieder zu.
„Hi, Malik“, sagt sie freundlich und deutet auf einen der Besuchersessel.
Sie erhebt sich, nimmt sich Block und Stift vom Schreibtisch und kommt zu mir herüber. Die Sessel drehen sich, finde ich heraus, als sie sich mit ihrem zu mir dreht.
„Schön, dass du gekommen bist.“
„Wir wissen beide, dass ich keine andere Wahl habe“, sage ich locker, in dem Versuch, etwas Humor in die Sache zu bringen. Es hört sich flach an, aber sie lächelt trotzdem.
„Nun ja, das stimmt nicht ganz. Du hättest dich auch dagegen entscheiden können. Eine Ausrede vorbringen. Dich krankmelden. Oder dir einen neuen Job suchen.“
Kapitulierend senke ich den Blick. „Verstanden, Dr. Ellery.“
„Corinne“, sagt sie. „Wir duzen uns hier alle.“
Überrascht blinzele ich. „Ich wollte eigentlicht, dass du mich Mr. Fournier nennst.“
Sie beugt den Kopf leicht zurück, lacht und nickt. „Sinn für Humor. Gefällt mir. Und ist ein gutes Zeichen. Menschen, die nach einem Trauma noch lachen können, hilft die Therapie meistens gut.“
„Also so nennen wir das wirklich, ja?“
Corinne zuckt mit den Schultern. „Nenn es, wie du magst, aber wir beide werden uns viel unterhalten. Ich muss herausfinden, ob du mit dem Trauma fertig wirst …“
„Das tue ich.“
Sie ignoriert meinen Einwurf. „Auf eine gesunde und produktive Weise. Auf eine Art, die ich für ausreichend halte, dich wieder in dein Team zu lassen. Es geht nicht nur um deine geistige Gesundheit, sondern auch um Sicherheitsbelange.“
Wenn ich darüber nachdenke, muss ich gestehen, dass es Sinn ergibt. Trotzdem will ich nicht darüber reden. Denn das kostet Zeit und öffnet Wunden, die ich lieber schnell zuheilen lassen würde. Dennoch habe ich keine andere Wahl. Nicht, wenn ich weiter bei Jameson arbeiten will.
„Na gut.“ Theatralisch gebe ich nach, mache es mir auf dem Sessel bequem und lege ein Bein über mein Knie. „Dann lass uns anfangen.“
„Sehr gut“, antwortet sie mit einem strahlenden Lächeln und hält ihren Stift über den Block. „Heute wird es erst mal langweilig sein. Hintergrundinformationen … Wo bist du aufgewachsen, wie ist die Beziehung zu deinen Familienangehörigen, warum hast du diesen Beruf gewählt und so weiter.“
„Verstanden.“ Das ist wohl der leichte Teil.
Sie legt einen Arm auf ihre Sessellehne. „Erzähl mir von deiner Familie, Malik. Du hast die Staatsbürgerschaften der USA und Kanada?“
Ich nicke. „Mein Dad ist Franko-Kanadier und Arzt. Meine Mom ist Amerikanerin und Rhetorik-Coach. Ich wurde in Montreal geboren und großgezogen und habe zwei Brüder und eine Schwester.“
„Das wievielte Kind bist du?“
„Warte …“ Ich verziehe das Gesicht, denn ich bin schlecht im Geburtstagemerken und solchen Sachen, aber ich liebe meine Geschwister und bekomme das hin. „Max ist der Älteste, er ist neunundzwanzig. Dann kommt Lucas mit achtundzwanzig. Dann ich mit sechsundzwanzig und als Letztes meine Schwester Simone. Sie ist unser Baby mit dreiundzwanzig.“
„Ich erinnere mich daran, als du das erste Mal bei Jameson warst und wir eine Besprechung im Konferenzraum hatten … Cage ist ausgeflippt, als er erfahren hat, dass deine Brüder für die Cold Fury spielen, weil das sein Lieblingshockeyteam ist.“
Darüber muss ich lachen. Cage ist zum Brüllen komisch gewesen bei dem Meeting, als ich vorgestellt wurde und er erfuhr, dass ich zwei berühmte Brüder habe. „Ja, Max und Lucas spielen bei den Cold Fury.“
Sie neigt den Kopf leicht zur Seite. „Hast du auch Hockey gespielt?“
„Ja. Max und Lucas würden sagen, dass ich auch ein Profi hätte werden können, aber das ist einfach nicht meine Leidenschaft. Ich wollte zu den Marines und nichts konnte mich davon abbringen.“
„Ein Franko-Kanadier, der zum US-Militär wollte, interessant.“
„Das liegt mir im Blut. Mein Großvater war ein Marine und als Kind liebte ich seine Geschichten.“
Auf diese Weise geht das Gespräch weiter, alles über meinen Hintergrund. Sie stöbert in meinem Privatleben