Das tägliche Leben geht bald seinen gewiesenen Weg, und jeder von den Teilnehmern macht den Eindruck, als passe er gerade für den ihm zuerteilten Posten ausgezeichnet. Wir haben eine kleine Republik auf der Gjöa eingerichtet. Es gibt da keine strengen Gesetze, denn ich weiß selbst, wie unangenehm einen eine solche strenge Disziplin anmutet in dem Augenblick, wo man sich auf offener See befindet. Man kann sehr gut seine Arbeit leisten, auch wenn die Rute der Disziplin nicht immer drohend geschwungen ist.
Meinen eigenen Erfahrungen gemäß hatte ich beschlossen, so weit wie möglich an Bord Freiheit walten zu lassen – jeder sollte das Gefühl bekommen, dass er in seinem eignen Bereich unabhängig sei. Dadurch entsteht – bei vernünftigen Leuten – von selbst eine freiwillige Disziplin, die einen viel größeren Wert hat als die erzwungene. Dabei bekommt jeder Einzelne das Bewusstsein, ein Mensch zu sein, mit dem man als mit einem denkenden Wesen rechnet, und nicht nur wie mit einer Maschine, die aufgezogen wird. Die Arbeitslust wird vervielfacht, und damit die Arbeit selbst. Ich möchte das auf der Gjöa angewendete System jedermann empfehlen.
Meine Gefährten schienen dieses Vorgehen auch sehr zu schätzen, und die Überfahrt auf der Gjöa glich viel eher einer Ferienreise von Kameraden als der Einleitung zu einem ernsten, jahrelangen Kampf.
Am fünfundzwanzigsten Juni fuhren wir zwischen Fair Isle und den Orkney-Inseln hinaus in den Atlantischen Ozean.
Und nun hätten sie uns sehen sollen – die vielen, die uns hier schon den Untergang prophezeit hatten! Mit vollen Segeln und einer frischen Brise aus Südost ging es mit Windeseile westwärts. Sie tanzte auf den Wogenkämmen – die Gjöa –, sie wetteiferte an Schnelle mit den Möwen!
Übrigens zeigte sich merkwürdig wenig Leben in unserem Fahrwasser. Wir sahen weder Vogel noch Fisch, von Schiffen überhaupt nicht zu reden. Seitdem wir bei Lister gepeilt hatten, war nur einmal ein Vollschiff in der Ferne aufgetaucht.
Der Motor war uns mehrere Mal sehr nützlich. Ich hatte bestimmt, dass er in Gang gesetzt werden solle, sobald der Wind so abflaute, dass wir weniger als zwei Knoten in der Stunde zurücklegten.
Übrigens mussten wir sehr auf einen sparsamen Verbrauch des Petroleums bedacht sein, da wir ja nicht wissen konnten, wie lange die Reise dauern würde.
Es war jetzt alles in Ordnung gekommen und ging seinen ruhigen Gang. Der ganze Tag war in vier sechsstündige Wachen eingeteilt, immer drei Mann auf jeder Wache. Der Dienst war unter allen gleichmäßig verteilt. Wenn der Motor im Gang war, blieben die Maschinisten meistens im Maschinenraum. Doch waren sie jederzeit bereit, uns Deckleuten, wenn es nottat, hilfreiche Hand zu leisten. Den alten Streit zwischen Deck- und Maschinenleuten gab es auf der Gjöa nicht. Wir arbeiteten alle für ein gemeinsames Ziel und nahmen willig und gerne an allem teil. Gewöhnlich waren zwei Mann auf Deck und wir teilten uns gleichmäßig in die Führung des Steuers.
Ende Juli stellte sich unter den Hunden eine Krankheit ein. Augenscheinlich wurde ihr Verstand zuerst angegriffen; sie wanderten teilnahmslos auf dem Verdeck umher und sahen und hörten nicht. Das Futter schmeckte ihnen nicht oder sie fraßen auch gar nichts. Nachdem dies ein paar Tage gedauert hatte, wurden sie im Hinterteil gelähmt und konnten sich nur noch mit großer Mühe weiterschleppen. Schließlich stellten sich Krämpfe ein und dann erlösten wir sie vollends mit einer Kugel. Auf diese Weise verloren wir zwei prächtige Tiere – Karli und Josef –, übrigens zur großen Freude von Silla, die nun die einzige Henne im Korb war.
Unsere Fahrt wurde die ganze Zeit so viel wie möglich nach dem Großkreis geführt. Das Wetter war bisher günstig und unsere Fahrt tadellos gewesen. Am fünften Juli hatten wir einen kleinen Sturm aus Südsüdost. Wir hatten gereffte Segel und durchschnitten das Wasser mit einer Geschwindigkeit von zehn Meilen. Der große Luvbaum war gut abgefiert und Stopper aufgesetzt. Es regnete sacht, als ich mich am Abend in meine Koje legte. Nachts um ein Uhr sprang der Wind nach Osten um, dadurch stürzte das Großsegel herab. Der Baumstopper zerbrach und der Luvbaum flog mit furchtbarer Kraft daher. Dies hätte ernsthafte Folgen haben können, aber in dem Augenblick, wo der Stopper brach, zerbrach bei allem Unglück zum guten Glück auch der Karveelnagel, wodurch der Piekfall festgemacht wurde, und zwar mit dem Erfolg, dass der Piek sich von selbst bog und den Stoß dämpfte, der uns sonst unseren Baum hätte kosten können. Dies war ein verhältnismäßig billiges Lehrgeld. Von da an waren wir bei Nacht vorsichtiger.
Unsere vier überlebenden Hunde begannen indes, sich sichtbar zu langweilen. Im Anfang konnten sie Wind und Wetter studieren und damit die Zeit totschlagen; aber jetzt wirkten die meteorologischen Zerstreuungen nicht mehr zerstreuend, und deshalb suchten ihre Gedanken sich ein neues Feld. Müßiggang ist aller Laster Anfang, sagt das Sprichwort, und dieser Ausspruch passt ebenso gut für Tiere wie für Menschen. »Lurven« und »Bismarck«, die bis dahin »Ola« ganz ergeben und untertänig gewesen waren, fingen jetzt an, sich zu widersetzen und den Gehorsam zu verweigern. Das heißt, Lurven – der in Wirklichkeit von Geburt an böse war – stachelte Bismarck auf. Dieser war ein großer prächtiger Hund von ungefähr zwei Jahren mit dem herrlichsten Kauwerkzeug, das man je gesehen hat. An Olas Zähnen hatte das Alter seine Spuren hinterlassen, sie waren ziemlich schlecht.
Als früherer Anführer umgab ihn allerdings eine gewisse Würde, und die anderen bedachten sich zweimal, ehe sie ihn angriffen. Lurven indes spielte seine Rolle ausgezeichnet. In sausendem Galopp fuhr er in gerader Richtung auf Ola los. Bismarck, der glaubte, es handle sich um einen Sturmlauf, schloss sich seinem Kameraden sogleich an, um ihm beizustehen. Ganz dicht vor Ola angekommen, hält Lurven plötzlich inne, worauf Bismarck, der nicht auf diese List vorbereitet ist, in des Feindes Rachen läuft. Er bekam dann auch regelmäßig ordentlich Schläge von dem erfahreneren Ola.
Lurven war der boshafteste von allen Hunden, die mir je begegnet sind. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er mit seinem etwas schiefen Kopf und den kleinen schielenden Augen, den Schwanz nach der einen Seite hinausgestreckt, über das Deck hinjagt, als sei er auf einen neuen Streich aus. Er wurde wegen seiner schlechten Streiche sehr oft von uns durchgewalkt und verlegte seine Taten deshalb gern auf eine Zeit, wo er weniger unter Aufsicht war. Wenn wir zum Beispiel an den Segeln beschäftigt waren, konnten wir eines Kampfes sicher gewärtig sein. In der Dunkelheit und Stille der Nacht, wenn Lurven die beiden aufeinandergehetzt hatte, benutzte er oft die Gelegenheit, Ola in den Rücken zu fallen, und dann konnte der Alte nicht allein fertig werden. Armer Ola! Bei diesen nächtlichen Kämpfen wurde er oft böse zugerichtet. Silla sprang bei solchen Gelegenheiten rings um die Kämpfenden herum; sie vollführte allein einen Spektakel, der den der beiden anderen ganz übertäubte, und biss diese auch von Zeit zu Zeit in die Beine.
Es regnete unentwegt weiter, und wir sammelten das Regenwasser in alle unsere Gefäße, als Waschwasser für uns und als Trinkwasser für die Hunde. Aber für gewöhnlich wuschen wir uns mit Seewasser und konnten es da nicht so genau mit der absoluten Reinlichkeit nehmen.
Von jetzt an hielten wir scharfen Ausguck nach Eis, und am neunten Juli entdeckten wir zwei schmale Streifen, die in der See auf und ab wogten; da wussten wir, dass wir nun bald die Hauptmasse des Eises erwarten konnten. Und ganz richtig, nicht lange danach hatten wir das Packeis mächtig und fest vor uns! In dessen Gefolge kam der Nebel, der treue Begleiter des Eises, der uns während eines großen Teils unserer Reise in den arktischen Gewässern Gesellschaft leistete.
Am elften Juli um halb drei Uhr nachmittags bekamen wir Land in Sicht, etwas westlich vom Kap Farewell. Die hohe zerrissene Felsenküste war ein prächtiger Anblick. Es sah aus, als reiche das Eis bis dicht an das Land heran. Dem Rat der schottischen Walfischfänger Milne und Adams gemäß hielt ich mich weit von der Küste entfernt, um nicht in das Eis hineinzugeraten.