Zunächst deshalb: Der Schiffer…!
Amundsen besaß seit ein paar Monaten eine Lizenz als Steuermann und konnte daher 1897 als Zweiter Offizier des Belgiers Adrien de Gerlache dessen Bark in die Antarktis begleiten – ein schier aberwitziges Unternehmen. Antwerpen war noch nicht hinter der Kimmung versunken, da zeigte sich, dass der Kommandant eine Crew zusammengewürfelt hatte, die aus Schlägern und Trinkern bestand. Ihre Herkunftsländer waren so verschieden, dass sich manche der Offiziere untereinander nicht verständigen konnten. Und als die »Belgica« zum Entsetzen aller – die meisten hatten wohl eher an eine Kavalierstour gedacht denn an ein seriöses Projekt – am 2. März 1898 vor Grahamland im Eis festfror und fortan mit diesem dahintrieb, als dann die Polarnacht heraufzog und zudem ein Matrose spurlos verschwand und der Geophysiker der Expedition auf unerklärte Weise starb, wurde der Patron der »petite colonie de condamnés« – dieser »kleinen Kolonie der Verdammten« – schwermütig; seine Leute waren es längst. Sie waren auf die Überwinterung nicht vorbereitet, waren dürftig gekleidet und mangelhaft mit Proviant versorgt; sie bekamen Skorbut und etliche verloren den Verstand.
Lediglich der psychologischen Betreuung und medizinischen Versorgung durch den Schiffsarzt Frederick Albert Cook (der sich einmal als Bezwinger des Nordpols ausgeben sollte) und der seemännischen Fähigkeit und gesundheitlichen Ausdauer Roald Amundsens hatte es die Besatzung zu verdanken, dass ihr Segler dem Zugriff unvertrauter Gewalten entrinnen und am 5. November 1899 seinen Heimathafen anlaufen konnte.
Auch wenn es Menschen – unfreiwillig – nun zum ersten Mal gelungen war, einen Winter in der Antarktis auszuharren, und auch wenn ihre Reise dabei viele Einsichten gefördert hat – Wissen, das dereinst zehn Folianten füllen sollte – blieb sie doch ein Warnzeichen dafür, wie man durch Unbesonnenheit sich und andere gefährdet. Angewidert vermied es Roald Amundsen hinfort, auch nur den Namen Adrien de Gerlaches zu erwähnen.
Vor allem aber wollte er nicht mehr in der Pflicht eines wehleidigen Stümpers stehen. In Punta Arenas, Südchile, hatte er den Dienst auf der »Belgica« quittiert, um sich auf eigene Faust nach Norwegen zu begeben. Dort hielt es ihn freilich nicht lange. Und so radelte er zusammen mit einem seiner Brüder von Kristiania nach Paris, dann alleine weiter nach Madrid und Cartagena, von wo er auf der »Oscar« in die USA schipperte (das »bicycle« immer dabei); auf demselben Dampfer ging es zu Beginn des neuen Saeculums wieder retour.
Nachdem der im April 1900 im englischen Hafen von Grimsby vor Anker gegangen war, machte Roald Amundsen einen Bummel durch die Stadt … Er stöberte hier und da in Buchläden und kaufte in einem von ihnen eine nahezu vollständige Sammlung von Werken über die Nordwestpassage.
Immerhin fehlte noch: Der Forscher …
Aus diesem Grund begab sich Roald Amundsen im September 1900 mit einer Empfehlung des norwegischen Nationalheros Fridtjof Nansen, der nach dreijähriger Abwesenheit unlängst mit der »Fram« aus der Arktis heimgekehrt war, zunächst nach Deutschland, um sich am Marine-Observatorium, Wilhelmshaven, und dann an der Deutschen Seewarte, Hamburg, in Magnetkunde unterrichten zu lassen. Salbungsvoll vermerkte er unter dem Datum des 4. Oktober 1900: »Legte heute Prof. N. meine Absicht dar, die gegenwärtige Position des magnetischen Nordpols zu bestimmen. Prof. N. meinte, dass das von großer wissenschaftlicher Bedeutung sein würde.« Mit diesem Kommentar Georg von Neumayers, des Direktors der Deutschen Seewarte und eines der renommiertesten Geografen jener Tage, war Amundsens Vorhaben höchstinstanzlich gutgeheißen.
Aber ging es ihm wirklich um die Lokalisierung des skizzierten Phänomens?
Freimütig sprach Amundsen von einer Neufestlegung der Koordinaten des magnetischen Nordpols – ein reichlich windiger Vorwand … Denn der magnetische Nordpol ist analog dem magnetischen Südpol nicht durch ein System geometrischer Linien zu fixieren, sondern schwingt infolge seiner Abhängigkeit von den in einem fort wandernden Kraftfeldern der Erde unaufhaltsam umher. Wobei der Radius, in dem dies geschieht – wie die Menschheit seit den Beobachtungen des Engländers James Clark Ross aus dem Jahre 1831 weiß –, an der so fatalen wie verlockenden Strecke John Franklins liegt!
Ging es Amundsen deshalb nicht insgeheim um die Befahrung der Nordwestpassage? »Ein merkwürdiger Ehrgeiz brannte in mir, gleiche Leiden zu überwinden.«
Sei’s drum! Roald Amundsen kaufte aus den Mitteln seiner Erbschaft in Tromsö das Heringsfangschiff »Gjöa«3, machte sich auf einem Probetörn in der Barentssee mit ihm vertraut, konsultierte weitere geophysikalische Institute im Deutschen Reich – darunter die Königlichen Observatorien auf dem Telegrafenberg bei Potsdam –, erwarb sein Kapitänspatent, unternahm eine Exkursion nach Nordnorwegen, um sich dort in erdmagnetischer Messtechnik zu üben … und sammelte daneben fleißig Spenden, weil die eigenen Gelder zur Ausrichtung der Expedition rapide verebbten.
Mochte auch sein Saga-Name auf Jahre hinaus irreführend buchstabiert werden – die GEOGRAPHISCHE ZEITSCHRIFT aus Leipzig stellte ihn noch 1907 mit dem französischen »Raoul« vor –, war doch sein Träger von Stund an ein Begriff. Denn er referierte vor der »Geographischen Gesellschaft« in Kristiania ebenso wie vor der »Royal Geographical Society« in London; für die eben genannte GEOGRAPHISCHE ZEITSCHRIFT war er bereits 1902 (unter Vermeidung des heiklen Vornamens) schlechthin »der Polarfahrer Amundsen«.
Überall glaubte man zu wissen, was der Norweger plante. Hatte er es nicht in DET NORSKE GEOGRAFISKE SELSKABS AARBOG, dem »Jahrbuch der Norwegischen Geographischen Gesellschaft«, von 1900–1901 erläutert? »Ich werde mich im Frühjahr 1903 mit der ›Gjöa‹ aufmachen. Insgesamt werden wir 7 Mann an Bord sein. Wenn ich einem kleinen Schiff wie diesem den Vorzug gebe, dann geschieht das deshalb, weil die Wasserläufe, die wir benutzen werden, sehr oft seicht und schmal sind. Da empfiehlt es sich, ein Fahrzeug zu haben, dessen Tiefgang nicht groß ist und das sich gewissermaßen auf dem Fleck manövrieren lässt. Ein unscheinbares Boot, besonders eines, das für den Fischfang gebaut ist, erfordert wenige Leute und ist als Folge davon auch in seiner Ausstattung billiger.«
Dieser Gesichtspunkt war nicht unwesentlich. Denn obwohl »der Polarfahrer« Schenkungen zu Tausenden entgegengenommen hatte – sogar die Allgemeine Deutsche Seeversicherungsgesellschaft war mit fünfzig Kronen dabei – und obgleich er sein Vermögen eingebracht hatte, stand er am Vorabend der Reise ohne eine Öre da. Erst die Bürgschaft eines entfernten Verwandten bewahrte Roald Amundsen vor der Pfändung der »Gjöa« – was ihn nicht daran hinderte, sein Davonsegeln als eine Flucht vor habgierigen Geldeintreibern zu stilisieren. Aber das war es nicht! Es war die Abwendung von einem Leben in geregelten Bahnen: von einem Dasein mit Themen, Fakten und Personen, die ihn nicht interessierten.
Daher überkam den Dreißigjährigen, als er in jener Dienstagnacht vom 16. auf den 17. Juni 1903 in Kristiania die Anker lichtete, wie damals, als er der Universität den Rücken kehrte, ein zweites Mal »unsägliche Erleichterung«. Und die heitere Stimmung hielt an. Denn planmäßig arbeitete sich die »Gjöa« durch den Skagerrak in den Atlantik hinaus, beharrlich entlang dem 60. Breitengrad auf die Südspitze Grönlands zu, dann an dessen Westküste hinauf zur Baffin Bay und hinein in den Lancaster-Sund, an dessen Ufern – »geheiligtem Boden« – John Franklins letzter sicherer Winterhafen gelegen hatte und wo