Die Nordwestpassage1
Seit den Tagen des Balboa steht fest, dass Cristóbal Colón alias Christoph Kolumbus 1492 mit seinen Karavellen weder in Cathay noch in Zipangu – also in China oder in Japan – eingetroffen war. Indien lag »plus ultra«, weiter draußen, und war, wie diverse Kosmografen meinten, nicht anders denn über die arktischen Archipele zu erreichen.
Daher schwärmten sie – egal ob Forscher oder Freibeuter – aus, um ihrerseits ans Ziel des Genuesen zu gelangen … und mussten doch allesamt vor heimtückischen Untiefen oder abweisenden Packeissperren beidrehen: der Italiener Sebastiano Caboto 1517 im Foxebecken, sein Landsmann Giovanni da Verrazzano 1523 in der Hudson-Straße, der Portugiese Esteban Gómez 1525 unter dem Saum Neufundlands, der Franzose Jacques Cartier 1534 im Sankt-Lorenz-Golf, die Engländer Martin Frobisher 1576 vor der Cumberland-Halbinsel, Henry Hudson 1610 in der Hudson Bay und William Baffin 1616 im Lancaster-Sund.
Nein, die Nordwestpassage blieb ein Traum, ein Trug, ein brillantes Theorem!
So lenkte die dauerhafte Fruchtlosigkeit der älteren Piloten die Abenteuerlust der jüngeren für eine Weile auf andere Regionen, obschon das Parlament in London unterdessen eine Belohnung von zwanzigtausend Pfund Sterling für jenen Sailor ausgesetzt hatte, der den Durchschlupf fände. Nachdem dann überdies James Cook – von der Bering-Straße aus in westöstlicher Richtung – vergebens nach jener Schneise gefahndet hatte, erschien sie ein für alle Mal als Illusion. Am 15. August 1778 notierte der Post Captain Seiner Majestät ins Logbuch der »Resolution«: »Eine halbe Stunde nach zwei kamen wir bei 22 Faden tiefem Wasser […] auf eine Breite von 70° 41’, wobei wir nicht in der Lage waren, uns auch nur ein Geringes weiter vorzutasten, war doch das Eis zur Gänze undurchdringlich und reichte vor uns von einem Horizont zum anderen, so weit wir sehen konnten.«
Anyway! Durch seine Siege in den Napoleonischen Kriegen wurde England am Anfang des 19. Jahrhunderts einmal mehr zur beherrschenden Seemacht, und ein furioser Slogan wie James Thomsons »Rule, Britannia! Britannia, rule the waves« (1740) – oder später John Everett Millais’ »It can be done, and England should do it« (1874) – feuerte manchen Heißsporn neuerlich an, die Route vom Atlantik in den Pazifik zu erschließen.
John Ross … David Buchan … William Edward Parry … John Franklin – sie alle stachen 1818 in See und irrten im maritimen Labyrinth vor Kanada umher, erlitten Verluste an Material und Mannschaften, scheiterten, aber gaben nicht auf und wiederholten ihre martialischen Attacken. Dass Robert John Le Mesurier McClure, der 1850 eine Expedition Richard Collinsons begleitete, mit der »Investigator« auf dem Kurs von James Cook um Alaska herumgesteuert war und – während sein Schiff in der Prince-of-Wales-Straße festsaß – bei einem Schlittenausflug gewahrte, wie dieser Kanal in den Melville-Sund mündete, der bereits von Osten her befahren worden war …, dass also McClure wenigstens die Möglichkeit jenes Transits als Erster bestätigen konnte, brachte ihm zwar die Hälfte des ausgelobten Preisgeldes ein, wird aber in seiner Publikumswirkung bis heute – bis zu Sten Nadolnys Roman Die Entdeckung der Langsamkeit (1983) – überlagert vom Untergang John Franklins und seiner Kameraden drei Jahre zuvor, jener epochalen Katastrophe.
Nicht bloß die geheimnisvollen Umstände seines Verderbens und nicht allein die penelopegleiche Anhänglichkeit seiner Gattin, die mehrere der rund vierzig Suchmannschaften selbst alimentierte, sondern gerade auch die Vieldeutigkeit der von diesen gesammelten Überreste, Anhaltspunkte und Gerüchte schufen rund um den Kommandanten der »Erebus« und »Terror« eine magische Aura, in der er als Phantom weiterlebte, als Leitfigur und Verführer.
Seine Zugkraft wirkte bis nach Norwegen hinüber.
Dort war in dem Weiler Hvidsten am Sannesund, rund siebzig Kilometer südöstlich von Kristiania (wie Oslo damals hieß), dem Skipper Jens Amundsen am 16. Juli 1872 von seiner Frau Gustava ein viertes Kind geschenkt worden, ein Sohn, der die Namen »Roald Engebreth Gravning« erhielt und damit wie ein Recke aus altnordischen Sagas daherkam. Denn »Roald« bedeutet ungefähr »der Ruhmvolle« und machte, was die Zukunft der Welterkundung zeigen sollte, eine treffende Aussage über den so Benannten – obgleich von Glanz und Gloria anfangs niemand etwas spürte.
Roald Amundsen ging in der Hauptstadt, wohin die Eltern mittlerweile umgezogen waren, zur Schule. Doch je höher er Klasse um Klasse aufstieg, desto tiefer fielen seine Leistungen Fach um Fach ab. Sein Eifer richtete sich auf andere Gebiete als auf die vom Lehrplan bestimmten: Er las John Franklins Reise an die Küsten des Polarmeeres in den Jahren 1819, 1820, 1821 und 1822 (1823) sowie dessen Zweite Reise an die Küsten des Polarmeeres in den Jahren 1825, 1826 und 1827 (1828) und passierte im Geiste die Coats-Insel, befuhr den Mackenzie und mit wohligem Schauder das Whiteout, das der Brite so betörend dargestellt hatte. »Eine seiner Schilderungen«, entsann sich Amundsen später, »in der er über den verzweiflungsvollen Rückzug einer seiner Expeditionen berichtete, fesselte mein Interesse mehr als alles, was ich je zuvor gelesen hatte. Er und seine wenigen Gefährten hatten drei bange Wochen mit Eis und Stürmen um ihr Leben kämpfen müssen, ihre einzige Nahrung bestand aus einigen Knochen, die sie in einem verlassenen Indianerlager fanden, und schließlich waren sie sogar genötigt, ihre eigenen Lederschuhe zu verzehren, ehe sie endlich wieder die ersten Vorposten der Zivilisation erreichten. – Seltsam, dass gerade die Beschreibung solcher Entbehrungen, die er und seine Leute zu erdulden hatten, mich an der Erzählung Sir Johns am meisten fesselte. Ein merkwürdiger Ehrgeiz brannte in mir, gleiche Leiden zu überwinden.«
Sieht man von seiner steten körperlichen Ertüchtigung ab, dann bestand Amundsens mentales Training des Ernstfalls zunächst im Besuch des Gymnasiums, den er 1890 mit der Gesamtnote »4« beendete. Seiner Mutter zuliebe – der Vater war seit Jahren tot – begann er daraufhin ein Studium der Medizin: gleichsam die nächste Abhärtungsstufe. Doch nachdem dann 1893 auch Gustava Amundsen gestorben war, beschränkte ihr Sohn seinen weiteren Aufenthalt an der Alma Mater auf eine Schamfrist: »Mit unsäglicher Erleichterung verließ ich kurz darauf die Universität, um mich mit ganzer Seele in den Traum meines Lebens zu stürzen.«
Noch im Dezember machte er eine siebentägige Skiwanderung über das Hardangervidda-Plateau im Westen Norwegens. Er bewarb sich um einen Platz auf der »Windward« des Engländers Frederick George Jackson, der nach Franz-Joseph-Land gehen wollte (und dort zum Retter Fridtjof Nansens werden sollte). Doch weil der ihn nicht anheuerte,2 trug er sich in die Musterrollen von anderen Schiffen ein, der »Magdalena« und »Valborg«, »Leon« und »Huldra«, »Jason« und »Rhône«. Auf diesen Pötten fuhr er zwischen 1894 und 1896 ins nördliche Eismeer und nach Kanada, nach Liverpool und nach Le Havre, nach Caen und zu den Stränden Afrikas.
Mochten die Lehr- und Wanderjahre Roald Amundsens auch noch so planlos wirken, waren sie doch unbeirrbar und hatten ihre Intention – Stichwort: »gleiche Leiden zu überwinden« – fest im Blick: »Zu dieser Zeit hatte ich schon alle Bücher der einschlägigen Literatur gelesen, derer ich habhaft werden konnte, und ein verhängnisvoller Fehler der meisten früheren Polarexpeditionen