Während die Lebensweisheit des Stoikers Seneca gerade wieder eine Renaissance erlebt und die Biographien lang verteufelter Herrscher wie Caligula und Nero Rehabilitierung oder zumindest nüchterne Neueinschätzung erfahren, hält die Verdammung der jüngeren Agrippina an, und es reicht für Julia und die ältere Agrippina weiterhin nur zur Fußnote. Eine weitreichende »Entmystifizierung«, wie sie beispielsweise für Augustus längst erfolgt, steht für die Frauen der Dynastie noch aus. Sie werden noch immer nicht als politische Akteurinnen wahrgenommen, in einer offenkundigen Verwechslung ideologischer Rollenvorgaben mit der historischen Realität.
Tatsächlich sind diese Geschlechterrollen über die Jahrtausende tradiert worden und uns deshalb seltsam vertraut. Zurückhaltung, Verzicht und Bescheidenheit waren weibliche Tugenden, die im Kaiserreich eine große Rolle für die Legitimation von Herrschaft spielten, weil sie in die untergegangene Epoche der Republik wiesen. Später wurden sie von der römischkatholischen Kirche übernommen, um neue Hierarchien zu rechtfertigten und Jenseitsverheißungen zu nähren. Die Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts stellte sie weitestgehend nicht in Frage – dabei hat kein Geringerer als Theodor Mommsen die Mitregentschaft von Livia und der jüngeren Agrippina nachgewiesen. Die meisten Althistoriker müssen sich jedoch in abgewandelter Form die alte Brecht-Frage des lesenden Arbeiters gefallen lassen: »Augustus erbaute Rom neu. Hatte er nicht wenigstens eine Frau dabei?« Tatsächlich waren es zwei, seine Gattin und seine Schwester, die den Herrscher nach Kräften unterstützten, Bauwerke finanzierten und Baustellen beaufsichtigten.
Das wurde jedoch in Jahrhunderten, da so viel weibliches Engagement, so viel ökonomische Eigenständigkeit von Frauen undenkbar waren, geflissentlich übersehen. Frauen wie die ältere und die jüngere Agrippina, die sich offensiv in politische Entscheidungen einmischten und nicht davor zurückschreckten, Soldaten Befehle zu erteilen, waren nicht nur den alten Römern, sondern auch so manchem modernen Historiker ein Graus. Man wollte dann lieber nicht erörtern, dass die römischen Kaiserfrauen in vielerlei Hinsicht nicht nur emanzipierter waren als die Königinnen des Mittelalters, sondern auch als die First Ladies des Nachkriegs-Westens.
Wichtige Beiträge zu einer zeitgemäßen Geschichtsschreibung über die Nero-Mütter leistete in den vergangenen Jahrzehnten immerhin die angloamerikanische Forschung. Als Standardwerke gelten die Julia-Biographie (2006) von Elaine Fantham und die Biographie der jüngeren Agrippina (1996) von Anthony A. Barrett.
Darüber hinaus finden kritische Auseinandersetzung und Hinterfragung der Quellen besonders umfänglich in Italien statt. Die Rechtshistorikerin Eva Cantarella befasst sich seit Jahrzehnten mit Mythos und (juristischer) Realität von Frauen in der Antike. Die Althistorikerin Francesca Cenerini thematisiert, ausgehend von ihrer umfassenden Monographie über Frauen im alten Rom (2002), immer wieder die Möglichkeiten weiblicher Machtausübung. Vielbeachtete und thesenstarke Biographien über Julia (2012) und die ältere Agrippina (2015) veröffentlichte der Altphilologe Lorenzo Braccesi, während die Althistorikerin Alessandra Valentini insbesondere die machtpolitischen Ambitionen der älteren Agrippina untersuchte (2019).
Die antike Überlieferung steht auf drei tragenden Säulen: Tacitus, Sueton und Cassius Dio. Alle drei Chronisten sind Nachgeborene, betrachten also die Geschehnisse einerseits aus einer gewissen Distanz und andererseits aus dem Blickwinkel ihrer eigenen Zeit. Tacitus (58–120 n. Chr.), einer der bedeutendsten Redner und Schriftsteller seiner Zeit, erlebte die fünf Kaiser Vespasian, Titus, Domitian, Trajan und Hadrian. Seine Schriften sind das Resultat fleißiger Archivrecherche und großer Gelehrtheit, doch dem eigenen Wahlspruch »Sine ira et studio« (ohne Wut und Parteinahme) ist Tacitus nicht immer gerecht geworden. Als stolzer Senator und überzeugter Republikaner bewertete der Geschichtsschreiber die Herrscher der Vergangenheit nach ihrem Umgang mit republikanischen Institutionen, insbesondere dem Senat. Entsprechend negativ ist das Bild, das er von Tiberius, Caligula, Claudius und Nero übermittelt. In Tacitus’ Augen war der Untergang der Republik mit einem allgemeinen Sittenverfall einhergegangen, für den die »Machtgier« der Kaiserfrauen ein ebenso untrügliches Anzeichen bildete wie die Willkürherrschaft ihrer Männer.
Cassius Dio (163–229 n. Chr.) war unter den Kaisern Commodus, Septimius Severus und Severus Alexander ebenfalls Senator und brachte es sogar zum Konsul, was ihm Zugriff auf Archive und offizielle Dokumente verschaffte. Wie Tacitus gilt er als Vertreter der senatorischen Geschichtsschreibung, doch erlaubte er sich in weitaus größerem Maßstab eine fiktionale Darstellung, etwa mit erfundenen oder zumindest stark ausgeschmückten Reden.
Auch bei Sueton (70–130 n. Chr.), dem unerreichten Meister der phantasievollen Anekdote und des Sex-and-Crime-Klatschs, weiß man nie so genau, was wahr ist oder erfunden. Sueton war kein Senator, sondern als Archivar der beiden Kaiser Trajan und Hadrian ein hoher Beamter. Unter Hadrian stieg er zum Kanzleichef auf, schrieb also etwa im Namen des Kaisers Briefe. Seine Position war nicht nur extrem einflussreich, sie verschaffte auch Zugang zu privaten Nachlässen früherer Regenten. Sueton verdanken wir die Überlieferung von Briefen des Augustus an seine Familienangehörigen, aber auch plastische Anekdoten, die den Tratsch der römischen Gesellschaft über die Kaiser und deren Frauen widerspiegeln. Seine Darstellung ist dabei erfrischend unideologisch. Sueton ging es in erster Linie um die Qualität der Geschichte, die er erzählt. Er ist zweifellos der Journalist unter den antiken Chronisten.
Zu diesen großen Drei gesellen sich viele andere, von denen hier nur die wichtigsten erwähnt sein sollen. Augustus selbst hat mit Res gestae einen Rechenschaftsbericht über seine Herrschaft verfasst – Frauen erwähnt er dabei mit keinem Wort. Velleius Paterculus (19. v.–31. n. Chr.) war Teilnehmer der Feldzüge von Tiberius und ein glühender Anhänger dieses Kaisers. Ganz anders Flavius Josephus (37–100 n. Chr.), der als jüdischer Chronist Roms Herrscherhaus mitsamt seinen Frauen aus der Distanz bewertet. Der große Naturforscher Plinius der Ältere (23–79 n. Chr.) beschreibt in seinem Hauptwerk Naturalis historia römische Weltsicht und Wissenschaft, aber auch so manchen gesellschaftlichen Spleen. Sein Neffe, der jüngere Plinius (um 61–um 113 n. Chr.), vermittelt in Briefen, wie die Oberschicht dachte und lebte. Und die Dichter, allen voran Ovid (43 v. Chr.–17 n. Chr.), überliefern jene archaischen Mythen, die das Fundament für die römische Kultur bilden, aber auch die raffinierte Lebensart der Kaiserzeit und die Rolle der Frauen jenseits aller strikten Vorgaben.
So verschafft uns die Vielzahl der Quellen einen sehr lebendigen Eindruck des Frauenlebens in der frühen Kaiserzeit. Nur die Protagonistinnen selbst kommen nicht zu Wort, von ihnen überdauerten keine Schriften und keine Akten. Dabei hat zumindest eine von ihnen ihre Sicht der Dinge aufgeschrieben: Tacitus erwähnt als eine der Grundlagen für seine Annalen ein inzwischen verschollenes Tagebuch der jüngeren Agrippina. Welchen Zeitraum diese Aufzeichnungen umfassten und inwieweit er selbst auf sie zurückgreifen konnte oder Sekundärquellen konsultieren musste, teilt er leider nicht mit. Dem älteren Plinius scheint das Original vorgelegen zu haben, denn er gibt Agrippina als Quelle an, indem er sie unter die von ihm studierten Schriftsteller listet. Agrippina hatte ihre Memoiren also veröffentlicht, was beweist, dass sie sich selbst als historische Akteurin begriff und die Oberhoheit über ihre Lebensgeschichte haben wollte. Leider hat sich dieser Wunsch nicht erfüllt.
Das alte Rom war nicht nur eine Welt der Männer. Wer die Spuren der Frauen sucht, wird sie ohne große Mühe finden. Und