Wie man an den beiden Abschnitten sehen kann, versuche ich gerade wieder, in mein »normales« Denken zurückzukehren. Aber noch funktioniert es nicht so ganz, denn zumindest fällt mir gleich, nachdem ich es hingeschrieben habe, auf, dass ich hier Denken simuliere, dass ich etwas reproduziere, auch wenn ich meine, es zu produzieren. Ich höre mich mit einer fremden Stimme sprechen, die doch meine eigene ist. Diese Stimme sagt etwas auf, was sie irgendwann einmal auswendig gelernt hat. Gleichzeitig ist es beinahe rührend, wie ich mir auch inhaltlich eine Lösung anbiete: »Das eine Buch, die paar Takte Bach. Eigentlich könnte ich es doch so einfach haben. Eigentlich läuft doch alles. Ein paar Gedanken, ein paar Texte. Niemand würde etwas merken. Selbst ich nicht.« Aber ist es nicht verständlich, dass ich die Beschäftigung mit meinem vermeintlichen Wahnsinn nicht dauerhaft durchhalte, weil sie selbst die Form des Wahnsinns anzunehmen scheint?
Selbst dem Verrückten gelingt es nicht immer, verrückt zu sein.
Dazu fällt mir ein Witz ein. In einem Varieté treten sowohl der angeblich größte Mann der Welt als auch der kleinste Mann der Welt auf. Ein Verehrer des Riesen möchte ein Autogramm von ihm und klopft nach der Vorstellung an dessen Garderobentür. Als zu seiner Überraschung nicht er, sondern der kleinste Mann der Welt öffnet, sagt er unwillkürlich: »Ach, sind Sie nicht der größte Mann der Welt?« »Doch«, antwortet der, »aber wissen Sie, nach Feierabend mache ich es mir gern etwas bequem.«
Was aber ist dieses Gefühl des Wahnsinns im Vergleich zu dem eigenartigen Tick, der mich seit einigen Tagen verfolgt und mir mehrfach am Tag eine Textzeile eingibt, nämlich: »I know a happy place where I must go.« Es ist eine Zeile aus dem Song Good Side of June von den Lords. Die Lords, der Inbegriff des Uncoolen, wie ich sie schon mit 12 empfunden habe. Allein der Name, der aus dem Schlager (Lord Leicester aus Manchester), der Vorabendserie (Lord Percy Stuart vom Excentric Club) und der Zigarettenmarke meiner Tante stammte, und die Angewohnheit der Bandmitglieder, sich Spitznamen zu geben, die sie dann auch noch mit dem Adelstitel versahen (Lord Ulli, Lord Max usw.), von dem Kellner-Livree, in dem sie auftraten, einmal ganz abgesehen. Ästhetisch unsicher wurden sie nie ihre Skiffle-Vergangenheit los, auch wenn sie ein paar Beat-Nummern coverten und daraus einen einzigen eigenen Hit destillierten: »Poor Boy«. Unergründlich und verschlungen bleiben die Wege des Unbewussten, das mir eine Textzeile auf die Lippen zwingt, die ich, wo schließlich auch?, seit mehreren Jahrzehnten unter Garantie nicht mehr irgendwo gehört habe und die sich mir dennoch eingeprägt hat, obwohl mir das Lied selbst nie gefiel. Ist es ähnlich wie mit dem Fluchen, dass der Schlager eben nicht über das ästhetische Empfinden, sondern über andere Wahrnehmungskanäle verarbeitet und entsprechend gespeichert wird? Was kommt als Nächstes? »Gloryland«? »Have a Drink On Me«?
19.12.2018
Das, was man seit Erfindung des Films die Zeitlupe nennt, existiert auch im wirklichen Leben. Es ist die Aufhebung der Zeit in Momenten völliger Panik. Im Gegensatz zum Film, in dem ich im Nachhinein verlangsamt anschauen kann, was geschah, findet diese Wahrnehmung im Moment des Geschehens statt. Zusammen mit dieser Zeitlupe existiert das, was man analog eine Raumlupe nennen könnte – und was im Film vielleicht »Zoom« hieße. Die Raumlupe ist aber etwas anderes als der Zoom, weil die Raumlupe ähnlich wie die Zeitlupe funktioniert, das heißt der Raum, so wie ich mich in ihm zu befinden meine, wenn ich ihn lediglich als Voraussetzung meiner Wahrnehmung begreife, besteht weiterhin, nur dass ich ihn bewusst wahrnehme, er nicht länger Hintergrund ist, vor dem, oder Bedingung, durch die etwas geschieht. Die Raumlupe vergrößert nicht, sondern macht sichtbar, ähnlich den Röntgenbrillen, die in meiner Kindheit in Zeitschriften angeboten wurden und vorgaben, mit ihrer Hilfe durch die Kleidung von vorzugsweise Frauen schauen zu können. Mit der Raumlupe kann ich durch die Dinge hindurch den Raum sehen, der sie ermöglicht. Ähnlich existiert bei der menschlichen Zeitlupe die Zeit als Voraussetzung meiner Wahrnehmung weiterhin, nur meine ich, die Zeit in ihrem Verlauf (besser: die Zeiten in ihren Verläufen) selbst zu erkennen und nicht wie sonst das Vergehen der Zeit im Moment dieses Vergehens nicht wahrzunehmen, sondern nur im Nachhinein. Raum und Zeit verschieben sich zueinander (man könnte etwa meinen, dass zum Raum hier die Zeit wird oder umgekehrt), werden in ihrer gegenseitigen Bedingtheit fühlbar und rufen in mir, der ich durch diese innere Zeit- und Raumlupe schaue, einen Schwindel hervor, ein Gefühl zu stürzen, zu fallen, orientierungslos zu schweben. Es sind Zustände, die einer Möglichkeit zur Wahrnehmung, noch dazu einer so genauen, zu widersprechen scheinen. Ich meine sogar, und genau das bewirkt eine zusätzliche Desorientierung, das Denken setze aus, bemerke aber in Wirklichkeit, was Denken unter anderem auch ist, nämlich ein beständiges Einordnen und Filtern.
Die oft postulierte Trennung von Denken und Fühlen existiert erst in dem Moment dieses Schwindels, existiert vor allem erst dadurch, dass ich wahrnehme, dass mein Fühlen und Denken gar nicht, wie ich anfänglich meinte, getrennt sind, sondern mein Fühlen permanent durch das Raster meines Denkens läuft und für mich allein auf diese Weise gefiltert wahrgenommen wird. Dazusitzen, um über etwas nachzudenken, ist eine sinnlose Tätigkeit, die sich immer an eine andere Tätigkeit koppeln muss, zum Beispiel das Schreiben, das Sprechen, das Arbeiten, um sich vollziehen zu können. Das Denken nämlich ist sprachlos, auch wenn ich meine, dass es sprachlich stattfindet, weil Anfänge von Sätzen, Wortfetzen, Sprachfragmenten in meinem Inneren aufzutauchen scheinen, die aber lediglich die Geräusche sind, die bei der Tätigkeit des Denkens, das heißt des sprachlosen Einordnens von Empfindungen entstehen, etwa so wie eine Tür quietscht, wenn man sie öffnet oder schließt, und man kaum auf den Gedanken verfallen würde, das Auf- und Zumachen geschehe lediglich, um dieses Geräusch hervorzurufen und nicht, um jemanden hereinzulassen oder selbst hindurchzugehen.
In der Panik lösen sich die Bezüge voneinander, werden die Gründe unscharf, weshalb man diesen Zustand auch als ein Außer-sich-Sein bezeichnet. Ich bin in der Panik jedoch nicht außer mir, sondern in mir, eins der seltenen Male höchstwahrscheinlich. Das Außer-mir-Sein lässt mich erfahren, dass das Denken tatsächlich sprachlos ist, ein Filter, durch den Raum und Zeit in mir abgebildet werden und der nicht mehr auf gewohnte Art und Weise funktioniert, sondern wie bei einer Kamera, die sich nicht mehr scharf stellen lässt, einem Bandgerät, dessen Geschwindigkeit nicht mehr zu regulieren ist, nur noch ein Gefühl von Unschärfe und Ungewissheit in mir hervorruft. Diese Momente dauern in der Regel nicht lange, sind für viele Menschen Ausnahmesituationen, die sie oft traumatisieren, zumindest schockieren, zumindest für eine Zeit lang desorientiert zurücklassen. Aber noch etwas anderes scheint sich zu beweisen: Raum- und Zeitempfinden scheinen doch keine angeborenen Grundlagen der Wahrnehmung zu sein, vielmehr erlernte Konstruktionen (vielleicht: erlernte Apriori). Mein Gefühl des Wahns bestand wahrscheinlich allein darin, dass mir diese angeblichen Grundlagen für einen Moment verloren gegangen waren, und aus nichts weiter.
20.12.2018
Ich meine zu verstehen, warum ich mich im ersten Tagebuch immer wieder geweigert habe, gewisse Ereignisse zu schildern. Es lag nicht allein an einer Scham, es war nicht nur der Versuch, eine Intimität zu bewahren, sondern war Ausdruck einer Weigerung, meine Erfahrung aufzugeben. Eine Erzählung, und genau das ist ihr grundsätzliches Problem und auch der Grund, warum sich viele Stoffe ihrer Bearbeitung zu verweigern scheinen, überschreibt die Erfahrung. Während die Erfahrung ambivalent bleibt, legt