Erhoffte Hoffnungslosigkeit. Frank Witzel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frank Witzel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783751800235
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das komplette Leben zu einer Erzählung umgeformt wie bei Proust. Da mir das für mich nicht möglich scheint (Warum?), suche ich im Schreiben immer auch etwas, das über das Erzählte hinausgeht, mich von seiner Zwanghaftigkeit befreit und in das Leben zurückführt.

      Vielleicht ist alles Schreiben ein Anschreiben gegen das Schreiben, der Versuch, sich aus dem Schreiben hinauszuschreiben.

      Und weil ich dachte, Theorie sei keine Erzählung, hoffte ich, mit ihrer Hilfe der Erzählung zu entkommen, und bohrte meinen Kopf immer tiefer in sie hinein, während der Körper allerdings draußen blieb.

      Ich muss mich entscheiden zwischen dem Narrativ, das mich trösten, aber auch einschläfern kann, und der Erfahrung, die mich wund, aber wach hält.

      21.12.2018

      Es ist die Normalität, die den Wahnsinn ausmacht. Die Normalität wird als Normalität sichtbar. Wird jedoch etwas sichtbar, ist es nicht mehr normal. Es ist ähnlich wie die Erfahrung von Raum und Zeit, das, was ich zeitweise für eine »apriorilose« Wahrnehmung hielt, während es sich wahrscheinlich genau umgekehrt verhält, der Raum durch alles, was sich in ihm befindet, hindurchscheint, die Zeit nicht länger unauffällig vergeht oder erst im Nachhinein in ihrem Vergangensein erkannt wird, sondern in einer ständigen Unruhe in allem nach vorne drängt.

      Binswanger beschreibt die Schizophrenie als »Unmöglichkeit eines ungestörten Aufenthalts bei den Sachen«. Aber wie soll man sich »ungestört« bei ihnen aufhalten können, wenn sie ihr Vergehen beständig zur Schau stellen, indem sie unsichtbar im Raum werden, vielmehr der Raum sichtbar durch sie hindurchscheint, sie unsichtbar in der Zeit werden, vielmehr die Zeit sichtbar aus ihnen herauspulsiert?

      Binswanger ist der Meinung, dass sich die Fähigkeit (des Nicht-Verrückten), sich bei den Dingen aufhalten zu können, darin zeigt, »daß wir das Seiende, alles Seiende, sein lassen, wie es an sich selbst ist«. Diese Fähigkeit aber kann nur der haben, der umgekehrt vom Seienden sein gelassen wird. Das genau aber ist das Problem des Wahnsinnigen, der von den Dingen, vielmehr von den durch die Dinge durchscheinenden Apriori seiner Wahrnehmung bedrängt wird und gezwungen ist, sich diesen Dingen gegenüber zu verhalten, weshalb er immer aufs Neue versucht, und wohl meist vergeblich, sie in eine Ordnung zu bringen. Das ist der Grund, warum sich Unica Zürn an das »Einmaleins mit der 9« klammert und es von 1 bis 9 aufzählt, nicht aber, logischerweise, zur 10 gelangt. Einen Text widmet sie sogar diesem Einmaleins und ihrem Sohn, er beginnt mit dem Satz: »Meine Augen sind weitsichtig geworden: das entfernte Objekt sehen sie deutlich.« Ja, allein das entfernte Objekt kann noch deutlich wahrgenommen werden, weil es in der Ferne des Raums liegt, weil es in diese Ferne versetzt werden musste, um überhaupt deutlich werden zu können, da der »ungestörte Aufenthalt bei den Sachen« unmöglich geworden ist. Das entfernte Objekt, auf das sich die Begierde richtet, die gleichzeitig weiß, dass eine Annäherung unmöglich ist.

      Binswanger scheint allerdings diese »Konsequenz der natürlichen Erfahrung«, der die »Inkonsequenz« der Geisteskrankheit gegenübersteht, für eine Form der Leistung zu halten, die erbracht werden muss, um die geistige Normalität zu erhalten: »Dieses Seinlassen ist aber keineswegs das Selbstverständliche und Bequeme, vielmehr stellt es, wie gerade unsere Fälle, und zwar auf defiziente Weise, zeigen, die allerpositivste Tätigkeit dar.« Ich vermute, dass Binswanger mit »allerpositiv« kein Werturteil formuliert, sondern auf den Positivismus verweist, allerdings widerspricht er sich insofern, als er einmal davon spricht, dass das »Seinlassen« nicht selbstverständlich oder bequem sei, dann aber die Erfahrung des Seinlassens als »natürlich« beschreibt. Ist es nun eine Art kulturelle Leistung des Menschen, das Seiende sein lassen zu können, während der »inkonsequente« Wahnsinnige die Rolle des verrückten Wilden annimmt, der aus der Kultur herausgefallen ist, oder entfernt sich der Wahnsinnige mit seiner »Kultur« von der »natürlichen« Gemeinschaft der Normalen?

      Handelt es sich hier um ein Problem der positivistischen Weltanschauung, die von einer allgemeingültigen Wahrnehmung objektiver Befunde ausgeht und den Wahnsinn in den Bereich der Metaphysik verweist? Aus der Sicht des Wahnsinnigen ist es ja nicht die eigene Unruhe, die seinen »ungestörten Aufenthalt bei den Sachen« verhindert, sondern die Sachen selbst, die unruhig sind.

      Das Ding an sich ist das, was den Raum sichtbar macht.

      Die Ordnungssysteme der Wahnsinnigen, das ist natürlich nur eine Annahme, sind ein Versuch, den »natürlichen« Ordnungssystemen etwas entgegenzusetzen. Unwillkürlich und unabsichtlich parodieren sie dabei diese Ordnungssysteme und legen den Wahnsinn frei, der unserer Normalität innewohnt.

      22.12.2018

      Freud schreibt in Jenseits des Lustprinzips: »Ich gestatte mir an dieser Stelle ein Thema flüchtig zu berühren, welches die gründlichste Behandlung verdienen würde. Der Kantsche Satz, daß Raum und Zeit notwendige Formen unseres Denkens sind, kann heute infolge gewisser psychoanalytischer Erkenntnisse einer Diskussion unterzogen werden. Wir haben erfahren, daß die unbewußten Seelenvorgänge an sich ›zeitlos‹ sind. Das heißt zunächst, daß sie nicht zeitlich geordnet werden, daß die Zeit nichts an ihnen verändert, daß man die Zeitvorstellung nicht an sie heranbringen kann. Es sind dies negative Charaktere, die man sich nur durch Vergleichung mit den bewußten seelischen Phänomenen deutlich machen kann.«

      Diese Aussage auf meine Erfahrung von vor einer Woche angewandt, könnte folglich bedeuten, dass mir das Unbewusste ins Bewusstsein getreten ist, und zwar in seiner unverfälschten Form, nicht vermittelt, nicht über Umwege erschlossen und zurechtgedeutet, sondern in Form einer Art Un-Bewusstwerdung.

      Wenn ich mir das Bewusstsein als etwas vorstelle, das lediglich ordnet und die Welt beständig nach Stellen absucht, an denen etwas in Unordnung geraten, »verrückt« ist, das wieder geradegerückt werden muss, dann würde ich ihm, das ist ein ganz automatischer Impuls, nur sehr ungern mein Unbewusstes anvertrauen, weil es dessen Strukturen nur verzerren und verfälschen kann.

      In dem immer wieder an verschiedenen Stellen stilistisch uneinheitlichen Text (was bei einem hervorragenden Stilisten wie Freud besonders auffällt), wie Texte oft stilistisch misslingen, wenn die Dringlichkeit der Mitteilung an erster Stelle steht, ist Freud, wie ich finde, insofern ein Fehler unterlaufen, als er die Psychoanalyse, die er doch gerade hier zu stabilisieren sucht, schwächt, da die Frage der Psychoanalyse gegenüber nicht allein »Wie?« lautet, wie nämlich soll das ordnende Bewusstsein das Unbewusste erfassen, sondern vor allem »Wozu?«, wozu soll das Bewusstsein das Unbewusste erfassen, wenn es dessen Inhalt am Ende doch nur aus einem fließenden Prozess herausnimmt und in eine statische Ordnung presst.

      Natürlich ging es ursprünglich einmal um Heilung. Das Ordnen des Unbewussten sollte die Heilung ermöglichen. Nur was bedeutet, in diesem psychoanalytischen Kontext »geheilt zu sein«? Und bin ich denn, einmal analysiert, wirklich geheilt oder doch nur geordnet? Ja, die Ordnung ist nicht zu unterschätzen, sie fühlt sich verlässlich an, stabil, aber doch nur, wenn man anschließend von ihr aus in das faszinierende Farbenspiel des unbewussten Sumpfs schauen kann, nicht wenn dieser dann trockengelegt ist, nicht damit auch da noch Ich ist, wo Es sich kaum hat entfalten können.

      Und wenn das Unbewusste jenseits der Kategorien von Raum und Zeit existiert, dann kann es nicht wie eine Sprache konstruiert sein, denn die Sprache bildet nicht nur die Zeiten, vielmehr erschafft sie die Zeit generell.

      Ist es nur ein anti-ödipaler, anti-psychiatrischer Reflex, auf den ich an dieser Stelle in mir gestoßen bin und der mich dazu bringt – und das wäre auch leicht als eine Form der Rationalisierung und damit des Widerstands zu enttarnen –, das Unbewusste gegen das Bewusstsein zu verteidigen? Es nicht vereinnahmen lassen zu wollen? Ein naiver Gedanke wahrscheinlich, dessen schmerzliche Rechnung ich schon bald wieder zu begleichen habe, wenn ich mich mit ganzer Kraft nach der ordnenden Kraft des Bewusstseins zurücksehne und widerspruchslos bereit bin, die durch das Reglement verursachten Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen.

      Und liegt hier nicht gerade das Problem, dass ich mit einem Mal wieder die alten Dichotomien aufmache (Unbewusstes / Bewusstsein), wo gerade dieses Denken doch für einen kurzen Moment außer Kraft gesetzt