Die Gnade des Versäumens.
Entsprechend waren meine Träume in den letzten Nächten. Es passierte nichts weiter in ihnen, außer – und erst jetzt fällt mir auf, dass sie mir diese Möglichkeit des Nacherlebens gaben – diesen feinen Unterschied in der Wahrnehmung noch einmal zu spüren. Ich stand zum Beispiel an einem Sommertag in einem Hof und schaute an den Hauswänden hoch zum blauen Himmel. Das war alles – zumindest erinnere ich es so. Und doch war etwas anders. Es wäre übertrieben, würde ich sagen, dass ich diese Szene, vor allen Dingen die Fassaden der Häuser, gleichzeitig aus einer anderen Perspektive sah, und dass sie in dieser Perspektive eigenartig flach und eindimensional wirkten. Die Unterschiede in der Wahrnehmung waren feiner, unbedeutender, und genau das gab ihnen ihre Bedeutung. Ich ging den Hof entlang, und aus einem Ladengeschäft kam ein Mann mit einem Teller, auf dem ein Plunderstückchen lag. Und auch hier wäre es übertrieben, maßlos übertrieben, würde ich sagen, dass ich im selben Moment, eigentlich noch bevor ich das Stückchen auf dem Teller sah, es bereits schmecken konnte. Dennoch ging meine Wahrnehmung in diese Richtung, ich konnte quasi auf Entfernung schmecken, so wie man etwas auf Entfernung sieht oder hört. Aber auch das ist eigentlich banal, jeder, der hungrig in einem Laden steht, meint die Dinge zu schmecken, die er sich gleich kaufen wird. Und dennoch war es so und war es so gleichzeitig nicht. Vielleicht war es überhaupt diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, leicht gegeneinander verschobener Wahrnehmungen, die das Eigenartige dieses Moments ausmachte. Vielleicht ist es gerade diese erstaunliche »Sachlichkeit«, das Fehlen von Gefühlen, überhaupt das Fehlen von allem, was ich gemeinhin mit dem Wahnsinn in Verbindung bringen würde. Vielleicht ist es die Erkenntnis, tatsächlich nichts wirklich von meinen Erfahrungen, besser meinen Erfahrungsmöglichkeiten, zu wissen. Selbst die Vorstellung, alles nur wie hinter einem Schleier wahrzunehmen, speist sich aus dieser falschen Vorstellung. Jede Idee von einer Erkenntnis beruht auf völlig verkehrten Prämissen. Alles, was es bedurfte, war diese leichte, diese beinahe unmerkliche Verschiebung. Eine kaum wahrnehmbare Erschütterung.
Ist es eigentlich Vernunft oder Wahnsinn, wenn man ganz sachlich bei allem, was man wahrnimmt, gleichzeitig wahrnimmt, dass es auch anders wahrgenommen werden könnte? Ist es vielleicht wirklich nur diese Möglichkeit einer anderen Wahrnehmung, die hier auftaucht, kaum merklich zwar, jedoch beständig da und alles begleitend?
Es stimmt natürlich nicht, dass diese Möglichkeit beständig da ist, ganz im Gegenteil, sie war lediglich für einen Moment da, ein Moment, der mir mittlerweile so kurz und unbedeutend erscheint, dass ich auch meinen könnte, ihn mir eingebildet zu haben. Genau das aber zeichnet diesen Moment aus, verleiht ihm seine Kraft: Diese Verschiebung ist so unmerklich, dass ich nicht einmal weiß, ob sie nun da ist oder nicht. Sie hat einen nachhaltigen Zweifel gesät. Dieser Zweifel bleibt bestehen, weil ich ihn nicht beschreiben, ihn nicht kategorisieren, nicht einordnen kann. Je mehr ich es versuche, beinahe notwendigerweise versuche, um ihn abzuschütteln, ihn loszuwerden, desto weiter breitet er sich aus, befällt alles, was ich versuche, ihm als Erklärung entgegenzustellen.
Alles hat sich verändert, weil sich dort nichts verändert hat, wo sich doch alles hätte verändern müssen. Genau aber in solchen Formulierungen zeigt sich das Problem: Dem Bewusstsein geht es um die großen Kategorien, um Entweder-Oder, Alles oder Nichts usw. Alles andere sind Unterkategorien, die zur Stärkung der großen Dichotomien beitragen, hinter denen sich lediglich die eine Grund-Dichotomie von Ich und Nicht-Ich versteckt. Es geht darum, auf dem Kategorielosen, dem Nicht-Einordbaren, auf den minimalen Unterschieden zu beharren.
Und auf gar keinen Fall ist die Sprache das Haus des Seins. Bestenfalls ist die Sprache das Gefängnis des Seins. Barthes hat die Sprache völlig zu Recht faschistisch genannt, weil sie zum Sprechen zwinge. Es gilt, gegen die Sprache »an zu sein«. Sprachlosigkeit als Waffe.
14.12.2018
Vielleicht liegt im Verrücktwerden auch die Weigerung, sich zu verändern, in eine andere Logik einzutreten. Obwohl man es muss, weigert man sich – und wird verrückt.
Gibt es ein Äquivalent des Verrücktseins für den Körper? Was würde Verrücktsein in Bezug auf den Körper bedeuten? Ist das Verrücktsein des Körpers lediglich eine Unfolgsamkeit dem Willen gegenüber? Und doch käme man nie darauf zu sagen: »Mein Arm ist verrückt geworden«, sobald er eine unwillkürliche Bewegung ausführt oder nicht mehr gehorcht. Der Körper ist also doch lediglich ein Instrument, dessen ich mich bediene, er ist an sich, während der Geist weder Hand noch Fuß hat, weder etwas berühren noch zu etwas hingehen oder vor etwas fliehen kann, weshalb er sich, es ist seine einzige Chance, als unverrückbares Zentrum ansieht, um das der Körper, und um diesen wiederum die Welt, kreist. Jede Bedrohung dieses Zentrums, jede Möglichkeit, aus diesem statischen Zentrum verrückt zu werden, wertet er zwangsweise als Verrücktheit.
Es zeigt sich ein Problem darin, den Geist – noch nicht einmal ihn direkt, sondern allein seine Form der Wahrnehmung – mit dem Ich gleichzusetzen. Immer ist es gleich das Ich, das verrückt wird. Genauso wenig, wie ich von meinem Körper oder Teilen meines Körpers sage, dass sie verrückt werden oder verrückt geworden sind, sollte ich es von meinem Geist oder von meinem Ich sagen. Ich sollte die Sprache des Körpers auf den Geist selbst anwenden: »Heute Morgen beim Aufwachen habe ich mir irgendwie den Geist geprellt.« Oder: »Ich hab mir neulich die Wahrnehmung verknackst und kann alles um mich herum immer noch nicht richtig einordnen.« Wäre das nicht sinnvoller, als immer sofort das große Geschütz des Ich, mit seiner ohnehin fragilen bis fragwürdigen Identität aufzufahren? Natürlich wäre es erst einmal eine Kränkung für das Ich, aber da müsste es halt durch.
Man spricht doch von den drei Kränkungen des Menschen, erst die durch Kopernikus, nicht mehr auf einem Planeten zu leben, der sich im Mittelpunkt des Universums befindet, dann die durch eine verzerrte Darwin-Rezeption, keine eigene Spezies und schon gar nicht die Krone der Schöpfung zu sein, und schließlich die durch Freud, nicht Herr des eigenen Bewusstseins zu sein. Aber sind und waren das tatsächlich Kränkungen? »Ob die Erde sich um die Sonne dreht, oder die Sonne um die Erde – das ist im Grunde gleichgültig«, sagt Camus zu Recht. Und ebenso gleichgültig ist es, ob ich vom Affen abstamme oder nicht, ob ein smart design oder ein weniger smartes Design in der Evolution am Wirken ist. Und auch die Erkenntnis Freuds hat das Ich keineswegs geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt, weil es sich über sich selbst erhoben und eine Theorie seiner selbst entworfen hat, in der es sich selbst in einer Geste des uneingeschränkten Herrschers nach außen hin relativiert, um sich nach innen hin zu verabsolutieren. Es ist nicht das naive Kind, ohne Vorbildung, das auf die Nacktheit des Kaisers hinweist, nein, der Kaiser selbst stellt seine eigene Nacktheit in einem mehrbändigen Werk und einer umfassenden Theorie aus und kleidet sich zugleich damit an. Das Ich arbeitet immer nur an seinem Erhalt, selbst wenn diese Arbeit nach außen hin die Form einer Dekonstruktion anzunehmen scheint. Es wähnt sich so umfassend, dass alles in ihm Platz findet, selbst die Kritik, selbst die Selbstkritik, selbst seine Entthronung.
Deshalb ist der Wahnsinn die einzige wirkliche Bedrohung des Ich, weshalb es wie besessen daran arbeitet, auch ihn einzuordnen und für sich nutzbar zu machen. Das Ich ist der geborene Kapitalist. Es ist die Logik des Ichs, die sich im Kapitalismus zeigt. Weder bestimmt das Sein das Bewusstsein noch das Bewusstsein das Sein, sondern dieser absolutistische Knotenpunkt, an dem Sein und Bewusstsein scheinbar zusammenlaufen und eins werden: das Ich.
Das kapitalistische Ich mit seiner faschistischen Sprache.
Nein, die Freud’schen Topologien waren keine Kränkungen für das Ich, vielmehr wurde es endlich in seiner göttlichen Dreifaltigkeit erkannt.
Das Verrücktwerden ist ein Zustand des Verlierens (ich verliere den Verstand), und dieser Zustand ängstigt deshalb so, weil ich den Moment des Verlierens sonst nicht erlebe, denn entweder ich habe etwas verloren oder es ist vorhanden. Wenn ich merke, dass ich etwas verliere, kann ich das Verlieren aufhalten und den Verlust verhindern. Beim Verrücktwerden erlebe ich das Verlieren, ohne etwas dagegen tun zu können.