Golf von Neapel Reiseführer Michael Müller Verlag. Andreas Haller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Haller
Издательство: Bookwire
Серия: MM-Reiseführer
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783956548581
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der Stadt nach­hal­tig. In „der zwei­ten Hälfte des 17. Jahr­hun­derts“, schrieb der Kultur­hi­sto­riker Dieter Rich­ter, „zählt man 304 Ki­rchen und 144 Klö­ster mit fast 5000 Geist­lichen.“

      In der Neuzeit wurde die Stadt im­mer wieder von Kata­stro­phen heim­gesucht. Im Dezember 1631 brach, nach langer Ruhephase, der Ve­s­uv aus. Das Unglück kostete ca. 3000 Menschen das Leben. Bei der an­schlie­ßenden Cho­leraepi­de­mie breitete erst­mals der Stadtpatron, der hl. Gennaro, sei­ne schütz­ende Hand über die Nea­po­litaner aus (→ Kasten). 1647 setzte für kurze Zeit der Ma­sa­niello-Auf­stand die bestehende Ordnung au­ßer Kraft. Die Erhebung des Fischer­händ­lers namens Tom­maso Aniello wur­de blutig nie­der­ge­schla­gen. Beteiligt waren an der Re­vol­te auch zahl­rei­che Angehörige des nea­po­li­ta­nischen Pö­bels, die be­rühmt-be­rüch­ti­gten Laz­za­roni (→ Kas­ten). Wäh­rend der Herrschaft des Bour­bonen Fer­di­nand IV. wurde im 19. Jh. die Wirt­schafts­krise vi­ru­lent, un­ter­bro­chen le­dig­lich durch eine Re­formphase unter dem Franzosen Joa­chim Murat. Aber nach der Nie­der­la­ge Na­po­leons in der Schlacht von Wa­ter­loo 1815 kehrte der al­te Schlendrian wie­der in der Stadt am Golf ein, in der Orts­fremde sich nun zu­neh­mend un­wohl und un­si­cher zu füh­len be­gannen. Immer wie­der wü­te­ten Epi­de­mien, die prekäre soziale La­ge der Laz­za­roni spitz­te sich wei­ter zu. Nach der unità, dem Aufgehen des Kö­nig­reichs beider Si­zilien im neu ver­ei­nig­ten Kö­nigreich Ita­lien, begann die längst über­fällige Altstadtsa­nie­rung: Vie­le Häuser wur­den erst­mals ans Ka­na­li­sa­tions­netz an­ge­schlos­sen, neue Stra­ßen­ach­sen und Re­prä­sen­ta­tiv­bau­ten ver­edel­ten um die Wen­de vom 19. zum 20. Jh. das Stadt­zen­trum, u. a. der Cor­so Umberto I oder die Gal­le­ria Umberto I mit ihrer weit­hin sichtbaren Glas­kup­pel. Die urbane Ent­wicklung im 20. Jh. ist auch von Ver­su­chen ge­kenn­zeichnet, in der Peri­phe­rie In­du­strie anzusiedeln. Dabei führ­te die Errichtung neuer Wohn­viertel an den Rändern zu einem Land­schafts­fraß un­ge­kannten Aus­maßes. In der Mussolini-Epoche füllten im Stadt­zen­trum neue Häuser­blocks zwi­schen Via To­ledo und Corso Umberto I die be­stehen­den Bau­lücken. In den 1980er- und 1990er-Jah­ren entstand nach Plä­nen des renom­mierten japanischen Ar­chi­tekten Kenzō Tan­ge das Centro direzionale − urbane Hochhäuser mit Spiegelglasfassaden, die Reisenden be­reits bei der An­fahrt mit der Eisenbahn ins Auge sprin­gen.

      Die Lazzaroni − Pöbel unter dem Schlaraffenbaum

      Eine wichtige stadtsoziologische Besonderheit Neapels waren die Lazzaroni − das urbane Lumpenproletariat. Die meiste Zeit des Jahres ver­brachten die Bet­tler, Stadtstreicher, Tagediebe und He­rum­treiber draußen in den Gassen oder lungerten in Haus­ein­gängen herum. Nur im Winter zogen sie sich zum Schla­fen in die un­ter­irdisch gelegenen Katakomben zurück, in jenes Napoli Sotteranea, das heute zu den Touristenmagneten der Stadt zählt (→ Link). Zeit­weilig sollen bis zu 60.000 Nea­politaner dieser Schicht angehört haben, de­ren Name sich viel­leicht vom bibli­schen Lazarus oder aus dem spanischen la­cería (Lepra) ableitet. Fest steht, die lazzari, wie sie auch genannt wurden, tru­gen ihren Namen mit Stolz. Zur kol­lek­tiven Identität trug auch deren ro­te Mütze bei, jene Kopf­be­de­ckung, die durch die Fran­zö­si­sche Re­vo­lu­tion 1789 als Phry­gi­sche Mütze oder Jakobi­ner­müt­ze berühmt wurde. Die mei­ste Zeit über ging es in den nea­po­li­ta­nischen Elends­vierteln trotz gro­ßer Armut recht fried­lich zu. Den­noch war das Gewalt­po­ten­zial der Lazzaroni in ganz Eu­ropa ge­fürch­tet, seit sich die Armen­schicht im legendären Auf­stand unter Füh­rung von Ma­sa­niello (→ Geschichte) kollektiv ge­gen die Steu­er­po­litik der spa­ni­schen Machthaber er­ho­ben hatte. Viele Rei­se­be­richte der Ade­ligen, Künstler und In­tel­lek­tuel­len im 18. und 19. Jh. illu­strier­ten das gro­ße Unbehagen, sobald die Frem­den mit dem Pöbel in Berührung kamen. Zahl­reiche kulturelle Stereotype vom wilden, un­ge­zü­gel­ten und wollü­stigen „Volks­geist“ haben hier ih­ren Ursprung. Auf der an­de­ren Sei­te zeigten sich Rei­sende von der brodelnden Volksseele Neapels fas­zi­niert und brachen eine Lan­ze für die Unbekümmertheit und Leichtigkeit der Lazzaroni, wobei auch sie den her­kömm­lichen Klischees folgten.

      Die wilde und leidenschaftliche Seite der Lazzaroni kam u. a. bei den großen Festi­vitäten zur Entfaltung, allen voran bei der jähr­lichen Blutsverflüssigung des hl. Gennaro. Ein weiteres wichtiges Ereig­nis war die Cuccagna, wo v. a. (aber nicht nur) Kinder auf einen „Schlaraffenbaum“ (albero della cuccagna) klet­terten, um eine oben befestigte Speise herabzuholen. Der bourbonische Kö­nig Ferdinand IV. galt bis zum Beginn der Fran­zösischen Herrschaft auch als Re Lazzarone. Der „Lazzaroni-König“ machte sich nicht selten mit dem Volk gemein und trieb diese proletarischen Spielchen auf die Spitze.

      Phrygische Mütze:Ölgemälde im Palazzo Reale

      Schließlich ver­än­derte der zunehmende motorisierte Stra­ßenverkehr das Ge­sicht der Stadt: Staus zur Rushhour gehö­ren zum gewohnten Bild, derweil die neue Metro die Verkehrsströme un­ter die Erde ver­legte. Krisen gehörten auch in der 2. Hälfte des 20. Jh. zum ge­wohnten Bild: 1972/73 wütete eine ver­hee­rende Choleraepidemie. Die Seuche forderte über 20 Menschenleben und bedeutete einen herben Rückschlag für die touristische Entwicklung Süditaliens. 2007 hielt die Müllkrise die Region in Atem. Müllhaufen verpesteten tage- und wo­chen­lang die Straßen der Stadt und legten strukturelle Mängel bloß − es fehl­te an Müllverbrennungsan­lagen, ille­gale Deponien waren ein gefun­de­nes Fressen für die örtlichen Camorra-Clans (→ Link), die sich an der Not­lage bereicherten. Andererseits erlebte die Stadt durchaus erkennbare Fort­schritte: Besonders unter dem Links­demo­kraten Antonio Bassolino, der zwi­schen 1993 und 2000 als Bürger­mei­ster die Geschicke der Stadt am Golf lenkte, erlebte Neapel eine wirt­schaft­liche, soziale und städtebauliche Re­naissance. Die ansprechend ge­stal­tete Uferpromenade zwischen der Piazza del Plebiscito und Mergellina geht u. a. auf seine Initiative zurück.

      Hinsichtlich der Zahl an Sehens­wür­dig­keiten nimmt Neapel un­be­nommen einen Spit­zenrang unter den euro­pä­i­schen Metropolen ein. Dazu gesellen sich diejenigen At­traktionen, die ge­gen­wärtig nicht zugänglich sind − Bau­denk­mäler, an denen der Zahn der Zeit nagt und die dem vielerorts grassie­ren­den Ver­fall anheimgegeben sind. Weil das Geld für die Restau­rierung fehlt, wer­den die betreffenden Denkmäler kur­zer­hand geschlossen (→ Kasten). Die meisten Attrak­tionen lie­gen in der Altstadt und sind bequem zu Fuß vom Hauptbahnhof (Napoli Cen­trale) er­reich­bar. Auch die Sehens­wür­dig­keiten links und rechts der Via To­ledo zwischen Piaz­za Dante und Piazza del Plebiscito werden am besten zu Fuß oder alternativ mit der Metrolinie 1 an­ge­steuert. Glei­ches gilt für das am Alt­stadt­rand ge­legene Ar­chä­o­lo­gi­sche Na­tio­nal­mu­se­um (Linie 1 und 2). Wer in­des einen größeren Radius wählt und sich für die Sehenswürdigkeiten auf den Hügeln so­wie in der Peripherie in­te­res­siert, soll­te am besten auf öffent­li­che Nah­ver­kehrs­mittel zurückgreifen. Ei­ne Be­son­derheit sind die Stand­seil­bah­nen (funiculari), die an ver­schie­de­nen Stel­len das Zen­trum mit luftig ge­legenen Aussichts­punkten auf den Hü­geln ver­bin­den. Die Fahrt allein ist be­reits ein für jedermann erschwing­liches Er­lebnis!

      Das Bahnhofsviertel ist nicht gerade ein Vorzeigequartier − das verbindet die Stadt am Golf mit zahlreichen an­de­ren Metropolen. Unglück­licher­weise ent­puppt es sich als das Stadtviertel, das Neuankömmlinge als Erstes zu Ge­sicht bekommen: Klischees einer dre­cki­gen, chaotischen, lauten und viel­leicht sogar unsicheren Metropole schei­nen sich umgehend zu bestätigen, wo­bei der Bahnhofsvorplatz (Piazza Gari­baldi) nach einem aufwändigen Face­lifting die Vorurteile aus­nahms­weise Lügen