L. Reddemann hat diese Sichtweise Anfang der 90er Jahre aus einer Weiterbildung bei mir übernommen und sie in beeindruckend kreativer und konsequenter Weise für eine intensive Revision ihrer Traumatherapiekonzepte genutzt (Reddemann 2002, 2004). Ein zentraler Aspekt davon ist, dass bei traumatisierten Klienten keine Beschäftigung mit der Vergangenheit begonnen wird, bevor sie nicht wirksam eine sichere Beobachterposition aufbauen konnten, aus der heraus dies dann angegangen werden kann.
Der noch immer weit verbreitete Mythos in Beratung und Therapie, dass Klienten einfach genügend Leidensdruck bräuchten, damit sie zu Veränderungen kommen, stellt aus meiner Sicht eines der dümmlichsten Fossilien der Therapiegeschichte dar. Zwar kann es sein, dass man mit erhöhtem Leidensdruck eine stärkere Bereitschaft zur Veränderung entwickelt. Die erlebte Fähigkeit zur Veränderung wird dabei aber immer geringer, da man ja sich stets als schwächer, enger, unfähiger erlebt, je mehr der Leidensdruck steigt. Die erlebte Fähigkeit und gerade dadurch auch fast immer die Motivation für Veränderung werden wesentlich stärker und konstruktiver, wenn man sich aus voller Kraft, Zuversicht, Neugier erlebt. Wie gerade die Flow-Forschungen zeigen, erlahmt dann keineswegs der Wunsch nach Entwicklung. Die uralte psychoanalytische Idee (natürlich auch schon von Psychoanalytikern selbst infrage gestellt), dass Menschen nur auf Triebbefriedigung und Spannungsabfuhr aus wären, lässt sich durch diese Forschungen widerlegen. Gerade wenn man sich im Flow erlebt und das angestrebte Ziel erreicht hat, beginnt man typischerweise, nach der nächsten Herausforderung zu suchen und sie anzugehen. Auch dieser Aspekt legt sehr nahe, die Kooperation in Therapie und Beratung nach Flow-Mustern anzulegen. Dies wird aber auch nur möglich, wenn die angestrebten Anforderungen (Ziele etc.) als mit den eigenen, subjektiv erlebten Kompetenzen realisierbar erscheinen. Deshalb müssen die Ziele entsprechend sorgfältig auf dieses subjektive Kompetenzniveau abgestimmt werden.
Diese Überlegungen zeigen auch deutlich: Völlig unzureichend ist die weit verbreitete Idee in der systemischen Arbeit, dass man – als Intervention – ein System „verstören“ sollte und dass sich dann das System hilfreich selbst reorganisieren würde (abgeleitet aus der Autopoiese-Konzeption). Denn wenn ein System verstört ist, erlebt es Verlust an Orientierung und Sicherheit. Dies mündet meist ein in Angst, Stress und Konfusion. Dann aber wieder steigt der Bedarf an Sicherheit, die man schnell zu erreichen versucht durch die unwillkürliche Wahl von Lösungsstrategien, die einem am meisten vertraut sind. Dann werden aber die Lösungsstrategien abgerufen, die schon bisher am meisten mit dem Erleben von Angst und Stress verbunden waren. Und dies sind so gut wie immer aber solche aus undifferenzierteren, inkompetenteren Zeiten, die also Lösungsversuche mit sich bringen, die das System auf ungünstigerem Niveau reorganisieren. Viele Beispiele auch aus politischen Kontexten (Weimarer Republik, Jugoslawien, Irak, Ruanda/Burundi) belegen dies auf tragische Weise. Das System sollte, wenn es schon „verstört“ werden soll, dabei unbedingt und vorrangig viel schützende, Sicherheit schaffende Begleitung angeboten bekommen. Ich spreche auch lieber nicht von „Verstörung“, sondern von Such- und Einladungshilfen, welche die Autoritäten (die Klienten) völlig frei auf Nützlichkeit hin prüfen sollten.
Imaginationsfähige Zielvisionsentwicklung
Will man die Reise erfolgreich gestalten, dürfte es meistens sehr nützlich sein, das Reiseziel zu bestimmen. (Allerdings ist auch denkbar, dass jemand quasi einfach einmal drauflosreisen will, ohne direkt klar inhaltlich definiertes Ziel. Darauf gehen wir gleich noch ein.) Aus ericksonscher Sicht ist diese Zielbestimmung eine zentrale Aufgabe. Da alles Erleben ja Ergebnis von Aufmerksamkeitsfokussierung ist, können die gewünschten Ziele umso eher und wirksamer erreicht werden, je differenzierter in Details des Erlebens sie beschrieben werden können. Denn dann sind sie fokussierbar bzw. imaginierbar, und dies wieder macht sie erst realisierbar. Die Beschreibung der Ziele muss deshalb unbedingt bestimmten Kriterien folgen: Es muss dabei immer beschrieben werden, was sinnlich konkret im Zielerleben da ist (nicht, was dann weg ist), was dann beginnt (nicht, was dann aufhört) und wie dies internal und interaktionell gemerkt werden kann. Würde man die Ziele so beschreiben, dass mehr dabei ausgemalt wird, was weg ist, würde dies zu einer geradezu das Problemerleben verstärkenden Fokussierung beitragen. Sie können ja einmal versuchen, was es bewirkt, wenn Sie z. B. ein Ziel so beschreiben: a) „Ich möchte gerne, dass diese unangenehmen, schmerzhaften Verspannungen endlich weg sind, dass es endlich aufhört mit diesem schmerzhaften Druck und ich nicht mehr eingeengt atme …“ Und: b) „Es wäre sehr schön, wenn sich jetzt bald wieder meine Schultern wohltuend lockern würden, wenn angenehm erfrischende Energie durch meinen Körper strömen würde und ich eine gewisse Leichtigkeit erleben könnte, womöglich verbunden mit einigen erholsam tiefen Atemzügen …“
Dies klingt einfach, für viele Klienten erweist sich das aber als äußerst schwierig. Denn wenn z. B. jemand sehr unter etwas leidet, ist er dabei so von dem unangenehmen Erleben absorbiert, dass er das nur noch weghaben will und wünscht, dass es aufhören soll, so sehr, dass kaum noch andere Gedanken zugänglich erscheinen. Die „Reisezielbestimmung“ ist deshalb nicht nur eine Abklärung, damit man dann mit der Arbeit anfangen kann, sie ist eine zentrale Phase der Interventionen.
Um ihr gerecht zu werden, sollten viele Fragen danach gestellt werden, woran die relevanten Beteiligten das gewünschte Ergebnis merken würden. Dabei zeigt es sich sehr oft, dass Klienten sich äußerst schwer tun, dies klar zu formulieren, aber nicht, weil sie etwa inkompetent wären. Ihr Denken führt a) spontan und unwillkürlich immer wieder auf das zurück, was sie „weghaben“ wollen, und b) haben sie kein kognitiv bewusst klares Bild vom gewünschten Ergebnis, sie haben eher eine intuitiv ahnende, bewusst noch vage Vorstellung. Deshalb erleben sie es oft als sehr erleichternd und unterstützend, wenn die Therapeuten ihnen differenzierte Fragen dazu stellen und auch durchaus einmal Vorschläge machen. Dies wirkt aber in aller Regel nur dann konstruktiv, wenn diese Fragen und Vorschläge nicht aus einer Haltung des Wissenden angeboten werden, der damit die gültige Realität derer definieren will, denen die Angebote gemacht werden. Die Anbieter sollten sich deshalb als Suchhelfer verstehen, ihre Angebote nur als Sondierungshilfen, welche den eigentlichen Autoritäten in diesem Such- und Findeprozess, nämlich den Klienten, die völlig freie Prüfung und Wahl zubilligen. Ich definiere mich deshalb seit langer Zeit gerne in meinem Rollenselbstverständnis nicht mehr als Therapeut oder Berater, sondern als „Realitätenkellner“, welcher diverse „Realitätenmenüs“ anbietet, dabei achtungsvoll ethnologisch neugierig die einzigartige Kultur der Gäste bestaunt und dann respektvoll auf die Wahl der Gäste wartet.
Um solche „Menüangebote“ hinsichtlich des gewünschten Erlebens machen zu können, kann man unser Wissen darüber nutzen, wie typischerweise Erlebnis- und Wahrnehmungsmuster assoziativ aufgebaut werden. So können viele detaillierte Fragen angeboten werden, nicht nur zu konkretem Verhalten, Denken, Fühlen, zu Kontextbedingungen etc. Die Phänomene, welche in der Hypnotherapie klassischerweise als „Trancephänomene“ beschrieben werden (z. B. Kossak 1989; Bongartz 1988; Yapko 1984), können dafür optimal genutzt werden. Gefragt werden kann dann z. B. danach, was mit dem gewünschten Erleben einhergeht (welche zu Mustern „gewebte“ Assoziationsketten von Erlebniselementen), z. B. welches Alterserleben, welches Erleben von Größe, Stärke, Beweglichkeit, welches Atemmuster, welche Empfindungen, welche inneren Dialoge, welche inneren bildhaften Vorstellungen, Erinnerungen, Zukunftsfantasien, welches Erleben von Raum, Zeit etc.
Bietet man dies systematisch und gut abgestimmt auf die Haltung der Klienten an, so erweist sich praktisch immer, dass die Fragen dann nicht nur als Fragen wirken, sondern quasi wie Angebote zu geleiteten Imaginationen. Denn die Fragen kann man weder verstehen noch beantworten, wenn man nicht innere Erlebnismuster (Imaginationen)