Pacing und Utilisation
Damit die Reise beginnen kann, muss der Reisepartner zunächst einmal diejenigen, mit denen er reisen will, an ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort abholen. Alle Maßnahmen, die dieser Aufgabe dienen, wurden von Erickson als Beiträge zum Aufbau einer kooperativen „Ja-Haltung“ („establishing of a yes-set“) bezeichnet. Die Reisebegleiter (z. B. Therapeuten) sollten dafür alle Erlebnisprozesse, auch alle Glaubenshaltungen, Erwartungen, Zielvorstellungen etc. des jeweiligen Gegenübers wertschätzend akzeptieren als ihre achtenswerte, aus guten Gründen so und so gestaltete Erlebniswelt. Diese wird also nicht hinterfragt, die Klienten müssen sich z. B. nicht auf die Sicht der Therapeuten einstellen und etwas an ihrer Sicht ändern, sondern dies erfolgt umgekehrt. Die Therapeuten geben deshalb ihre eigene Position aber nicht auf, auch nicht ihre eigenen Bedürfnisse und Bedingungen, die sie für eine Kooperation brauchen. Sie bieten aber eine kongruent achtungsvolle Begegnung mit einer quasi multikulturellen Toleranz an. Die Begründer des NLP haben diesen äußerst wichtigen Aspekt der Arbeit „Pacing“ genannt (Bandler a. Grinder 1982). Pacing stellt eine Daueraufgabe dar in einer Beratungs- oder Therapiekooperation. Damit man ihr gerecht werden kann, gibt es in der ericksonschen Konzeption eine enorme Vielfalt von Kriterien, mit denen man die Erlebnisorganisation von sich selbst oder anderen differenziert erkennen und beschreiben kann, um so besser auf sie eingehen zu können (einige der wichtigsten Kriterien werden im Kapitel Hypnosystemische Kompetenzentfaltung aufgeführt). Wie ich schon gezeigt habe, erweist es sich auch aus systemischer Sicht als eine der wichtigsten Grundaufgaben in Therapie und Beratung, das Beratungssystem als zieldienliches Kooperationssystem aufzubauen (Kybernetik 2. Ordnung). Pacing-Strategien ermöglichen u. a. wesentlich vielfältigere und differenziertere Möglichkeiten, das Beratungssystem quasi maßgeschneidert abzustimmen auf die einzigartigen Welten der Klienten, aber auch auf die relevanten Kontextbedingungen der Kooperation, so wie wir sie aus den üblichen systemischen Modellen kennen.
Um das Beratungssystem optimal als kompetenzfokussierendes System aufzubauen, sollte ein weiterer wichtiger Aspekt beachtet werden. Kein Phänomen „ist“ an sich eine Kompetenz oder eine Inkompetenz, eine Ressource oder Nichtressource. Jedes Phänomen kann aber als Kompetenz oder Inkompetenz wirken. Dies hängt davon ab, ob es (aus der Sicht des jeweiligen Betrachters) Gewünschtes, den jeweils zugrunde gelegten Zielkriterien Entsprechendes bewirkt und auch dabei in die jeweils als gültig angesehenen Kontextbedingungen (z. B. Moral, Kultur etc.) passt. Dann wirkt es als „Kompetenz“, übrigens ganz unabhängig von der ursprünglich damit verbundenen Absicht des Handelnden. Die Wirkung und die Kontextviabilität bestimmen also „Kompetenz“. Wirkt es nicht zieladäquat und/oder kontextadäquat, gewinnt das jeweilige Phänomen (Denken, Handeln, ja auch Emotion) den „Charakter“ von Inkompetenz. Ob etwas als Kompetenz oder Inkompetenz angesehen und genutzt wird, hängt also entscheidend davon ab, wie es beschrieben und bewertet wird und wie man sich dazu in Beziehung setzt. Der jeweilige Beobachter und Bewerter des Phänomens bestimmt also über seine „Eigenschaft“.
Für Therapeuten folgt daraus: Wenn sie einen Beitrag dazu leisten wollen, das Beratungssystem als kompetenzfokussierendes, zieldienlich wirksames Kooperationssystem aufzubauen, sollten sie jedes Phänomen, welches von den Klienten angeboten wird, aber auch eigene Beiträge, eigenes Erleben jeweils so beschreiben, bewerten und so damit umgehen, dass es als Kompetenz für Bedürfnisse behandelt werden kann, die für die Zielverwirklichung zu berücksichtigen sind und genutzt werden sollten. Dies wird im ericksonschen Konzept „Utilisation“ genannt. Wenn z. B. jemand immer wieder jedes Angebot mit „Ja, aber …“, großen Zweifeln etc. beantwortet, sollte dies behandelt werden als deutliches, kompetentes Verhalten im Dienste von Sicherheitsbedürfnissen des Betreffenden und als Fähigkeit, kritisch zu prüfen und nur das anzunehmen, was auch ganz sicher für die eigene Person passt. Die Therapeuten tragen so dazu bei, eine neue Realität zu erzeugen (wenn ihre Angebote für die Adressaten plausibel erscheinen), welche Kompetenzperspektiven ermöglicht. Diese Fähigkeit sollte dann nicht verändert, sondern genutzt werden als klarer Hinweis darauf, unter welchen Bedingungen jemand kooperieren würde, nämlich wahrscheinlich nur, wenn er viel autonomen Raum für kritische Prüfung und Abgrenzung gegen Angebote der Therapeuten bekommt.
Das Beratungssystem als rituelles Kraftentfaltungs- und Flow-System
Wie ich oben schon gezeigt habe, als ich Probleme verstehbar machte als Zeichen einer (letztlich selbsthypnotisch induzierten) Problemtrance, gehen solche Problemerlebnisprozesse so gut wie immer damit einher, dass sich die Wahrnehmungsmöglichkeiten sehr verengen. Damit erleidet man nicht nur ein Problem, man dissoziiert auch viele Kompetenzen, die man für seine Lösung gut gebrauchen könnte. Tragischerweise führt dies wiederum dazu, dass man so eher Zugang findet zu (bzw. sich assoziiert mit) Zielvorstellungen, Lösungsideen und Lösungsstrategien, die das Problem gerade wieder verstärken oder stabilisieren, anstatt es wie gewünscht zu lösen. Dies ist ein unwillkürlicher Prozess, man sollte keinem Klienten unterstellen, dass er etwa lieber leiden wolle als lösen. Aussagen wie „Leiden ist leichter als Lösen“ (Döring-Meijer 2000 unter Bezug auf B. Hellinger) diffamieren aus meiner Sicht Klienten und werden dem belegbaren Prozess nicht gerecht, dass die Klienten einen hohen Preis bezahlen dafür, dass ihre Erlebnisorganisation so dissoziiert ist. Während des Leids, während man ein Problem erlebt, wird man meist auf fast allen Ebenen der Wahrnehmung zu jemand anderem als derjeninge, als den man sich erlebt, wenn es einem besser geht. Während leidvoller Phasen verändert sich sogar der Hormonhaushalt, man wird quasi dümmer in dem Sinne, dass man eben nur noch eingeengt reagieren kann (Ciompi 1982; Hüther 1999, 2000, 2004; siehe auch das Kapitel Die Klinik als lernende Organisation).
Wenn Menschen, unter dem Eindruck eines Problemerlebens, sich zu einer Beratung oder Therapie entschließen, können wir davon ausgehen, dass sie auch das Ereignis Beratung bzw. Therapie aus der Problemtrance heraus angehen und erleben. Auch ihre Schilderungen des Problems, ihre Zielvorstellungen und ihre Ideen hinsichtlich möglicher Schritte entspringen der Problemtrance und können deshalb leicht wieder ins Problem zurückführen.
Therapeuten haben deshalb die ethische Pflicht, den gesamten Prozess der Zusammenarbeit so mitzugestalten, dass er zu einem Kontext der Wertschätzung, Sicherheit, von Wohlgefühl, ja, von optimalem Flow-Erleben wird (Csikszentmihalyi 1996). Mit Flow ist gemeint, dass sich jemand ganz im Lot fühlt, voller Kraft, Schwung, Elastizität, mit optimal fließender Energie und sich dabei ganz einer Aufgabe widmen kann, quasi erfüllt von ihr und ohne unangenehmen Stress. Lösungsfokussierung und Flow bedeuten dabei aber nicht, dass man sich immer als locker und fröhlich erleben müsste – das würde einer billigen, oberflächlichen und destruktiv wirkenden positivistischen Schönfärberei entsprechen. Da ziehe ich eindeutig Werte des „alten Europa“ vor. Es geht darum, jeweils das den Erfahrungen und Kontexten der Beteiligten aus ihrer Sicht angemessenste Erleben zu unterstützen, bei Verlust z. B. Trauer, bei als gefährlich angesehener Unsicherheitssituation (z. B. bei der Arbeit, in Beziehungen) auch den liebevollen, achtenden Umgang mit Angst (anstatt sie abwertend „wegmachen“ zu wollen). Alle Gefühlsreaktionen haben kontextbezogen ihren Wert, aus dieser Sicht gibt es keine „negativen“ Gefühle, sondern immer nur solche, die in bestimmten Kontexten die genau stimmige Kompetenz darstellen.
Je mehr jedes Angebot der Therapeuten auf erlebbare Wertschätzung, Sicherheit und Kraft fokussiert, desto eher können die Klienten wieder zu denen werden, die ihre Anliegen endlich wieder aus einer Perspektive anschauen können, die ihnen Zugang zu hilfreichen Ideen ermöglicht. Deshalb sollten Therapeuten sich auch nicht sofort intensiv mit den Problemen beschäftigen, sondern damit, was die Klienten brauchen könnten, um überhaupt eine sichere Beobachterperspektive aufbauen zu können, aus der heraus sie geschützt, sicher, mit Kraft erst ihre Muster betrachten. Es sollten also viele fokussierende Fragen, Einladungen etc. angeboten werden in Richtung dieses Erlebens, z. B.: „Ich frage mich, was Sie im Moment gebrauchen könnten, um wieder mehr Kraft zu spüren, um diese schwierigen Themen einmal mit etwas Abstand, mit etwas Schutz und Zuversicht anzugehen.“ Oder: „Wie müssten wir denn darüber reden, damit Sie wieder merken können, dass Ihnen dabei quasi der Rücken so