Koevolution
Die Prinzipien von Kooperation und Selbstorganisation führen zu einem weiteren Prinzip der Systemtheorie, dem der Koevolution. Im Gedanken der Koevolution beeinflussen sich zwei benachbarte Systeme, und aus diesen Feedbackschleifen entstehen emergente Systeme, die Lernen und Evolution auf einer höheren Ebene ermöglichen. (Johnson 2001) Evolution lässt sich nicht auf die einseitige Anpassung eines Organismus an die Umwelt beschränken, weil die Umwelt selbst wieder durch lebende Systeme gestaltet wird, die wiederum zur Anpassung und Kreativität fähig sind. Die Frage, wer sich nun wem anpasst, lässt sich daher am ehesten dadurch beantworten, dass es eine gemeinsame, fortwährende Entwicklung gibt. (Lovelock 1991)
Der Gedanke der Koevolution rückt die Integration pluraler Lebensformen in den Mittelpunkt, Leben, das nicht darauf aus ist, sich gegenseitig zu zerstören, sondern vor allem daran interessiert ist, zu überleben, in Koevolution mit anderen Lebensformen. Selbst da, wo auf denselben Lebensraum und dieselben Ressourcen zurückgegriffen wird, kommt es selten zu einem Konkurrenzkampf, bei dem nur der Stärkere überlebt.
Vernetzung statt Kampf
Es gibt dagegen viel mehr Beispiele für Koexistenzen, die sich nebeneinander entwickeln, um sich gegenseitig nicht mehr zu stören. Die Leguane der Gattung Anolis beispielsweise leben in der Dominikanischen Republik eng zusammen und ernähren sich von denselben Insekten. Jede Art bewohnt jedoch eine andere Ebene der Bäume, manche bevorzugen den Schatten, manche die Sonne – und so vermeiden sie einen Konflikt. (Otto/Ondarza 2009) Leben hat die Erde nicht durch Kampf, sondern durch Vernetzung erobert, wie es die Biologin Lynn Margulis (Margulis/Sagan 1986) ausdrückt. Die These, dass individuelle Konkurrenz die dominante evolutionäre Überlebensstrategie sei, ist auch schon deshalb angreifbar, weil Individualismus in der Evolution erst spät auftritt. Primitives Leben ist dagegen in hohem Maße durch makroskopische Strukturen wie Kolonien, Gesellschaften und Ökosysteme geprägt.
Dawkins und das »egoistische Gen«
Das Konzept der »egoistischen« Gene, das der Biologe Richard Dawkins entworfen hat (1989), widerspricht nicht den Prinzipien von Kooperation und Koevolution, auch wenn das auf den ersten Blick so scheinen mag. Das Interesse der Gene, nicht nur auf den eigenen Fortpflanzungserfolg zu blicken, sondern auch auf den der Verwandten, kann man zwar im weiteren Sinne egoistisch nennen, im Rahmen der Erhaltung des Genpools liegt hier aber durchaus auch ein kooperatives Verhalten vor. Kooperation ist sogar als eine der Grundeigenschaften von Genen zu verstehen. Über den selektiven Druck und die damit verbundene Reproduktionsfähigkeit hinaus verdanken Gene ihre komplexe Entwicklungsfähigkeit vor allem drei biologischen Grundprinzipien, dem der Kooperation, der Kommunikation und der Kreativität.
Insbesondere der Kooperation wird dabei eine zentrale Rolle für die Entstehung lebender Systeme zugeschrieben: »Erste lebende Systeme waren entscheidend mehr als die Summe ihrer Einzelteile. Keine der Komponenten innerhalb eines Ensembles – weder RNS noch Proteine – war autonom. Es herrschte ausnahmslos wechselseitige Abhängigkeit. Nichts konnte geschehen außer durch Kooperation.« (Bauer 2008, 35)
Der Freiburger Genforscher Joachim Bauer wendet sich gegen Dawkins’ Konzept »egoistischer Gene«, auch wenn es als biopsychologisches Korrelat vorzüglich zur herrschenden Wirtschaftsordnung passen würde. Vielmehr unterliege die DNS samt den enthaltenen Genen der Regie der Zelle. Biologische Kooperation kann nach Bauer demnach nicht als Mittel zum Zweck im Überlebenskampf gesehen werden. (Bauer 2008, 36)
Ein gutes Beispiel für biologische Kooperation ist auch das biologische Prinzip der Endosymbiose, das dem Darwinismus widerspricht. Etwa vor zwei Milliarden Jahren waren die sogenannten Archaeazellen nicht in der Lage, mit der Zunahme an Sauerstoff umzugehen. Doch anstatt in darwinistischer Selektion unterzugehen, nahmen sie Bakterien in sich auf, die Sauerstoff verbrauchten resp. erzeugten, und ließen durch diese Endosymbiose einen neuen Zelltyp entstehen, der zur Basis für alle späteren Tier- und Menschenkörper (als Sauerstoff verbrauchende Version) wie auch für alle Pflanzen (als Sauerstoff produzierende Version) werden sollte: die eukaryontische Zelle.
Evolution meint nicht die Entwicklung von Einzelkämpfern
Die amerikanische Biologin Lynn Margulis beschrieb die Theorie der endosymbiotischen Entstehung eukaryontischer Zellen bereits 1970. Dieser Theorie zufolge geben die Teilnehmer ihre Identität in der Fusion nicht völlig auf. Erstmalig lässt sich der Gedanke der Endosymbiose sogar schon 1905 in den Forschungen des russischen Biologen Mereschkowski nachweisen. Er konnte als antidarwinistisches Evolutionsprinzip später bestätigt werden. (Kutschera 2009) Die Endosymbiose zeigt sogar, wie Kooperation zwischen der Sauerstoff produzierenden Pflanzenwelt und einer Sauerstoff verbrauchenden Tierwelt funktioniert: »Die Evolution ist keine Entwicklung von Einzelkämpfern (weder einzelkämpferischer Individuen noch einzelkämpferischer Spezies), sie ist eine Entwicklung von biologischen Systemen.« (Bauer 2008, 54)
Die Analogie mit einfachen Organismen setzt das menschliche Leben keineswegs herab. Wir können die Geschichte auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten: Prokaryontische Bakterien haben sich im Laufe der Evolution in eukaryontische Zellen mit Zellkern gewandelt, die sich dann in selbstorganisatorischer Weise zu pflanzlichen und tierischen Vielzellern weiterentwickelt haben. Und diese wurden im Laufe der Evolution ihrerseits wieder zum Wirt für Bakterien; wir tragen mehr bakterielle DNS in uns als eigene. So könnten wir auch bescheiden feststellen: »In fact bacteria dominates the earth’s biomass. Standing on the sun, who would you say rules the earth?« (Meyer/Davis 2003, 245)
Evolution und Spieltheorie
Kooperation als Überlebensstrategie
In den letzten Jahren haben sich die Argumente der Spieltheorie als sehr nützlich dabei erwiesen, Kooperation als dominante Überlebensstrategie nachzuweisen. Obwohl eigentlich als Computersimulation entstanden, lässt sich die Spieltheorie als Erklärungsmuster für Evolution nutzen – und der Begründer der Spieltheorie, der Mathematiker und Politikwissenschaftler Robert Axelrod, tut dies auch ausdrücklich. Wir wollen die Spieltheorie deshalb, wenngleich es sich nicht um eine biologische Disziplin handelt, zur Erklärung der Evolution der Kooperation heranziehen.
Gefangenendilemma: kooperieren oder verraten
Ein wichtiges Element der Spieltheorie ist das sogenannte Gefangenendilemma. Den Ausgangspunkt bildet folgende Situation: Zwei Männer werden beschuldigt, gemeinsam eine Straftat begangen zu haben. Sie werden separat verhört und haben deshalb nicht die Möglichkeit, ihre Aussagen abzustimmen. So muss nun jeder für sich überlegen, was er tun will. Die Höchststrafe für die Straftat beträgt sechs Jahre Freiheitsentzug. Wenn beide schweigen, werden sie aufgrund kleinerer Delikte zu je zwei Jahren Haft verurteilt. Wenn beide gestehen, werden sie jeweils mit vier Jahren Freiheitsentzug bestraft. Wenn jedoch einer die Tat gesteht und der andere schweigt, gilt jener als Kronzeuge und erhält nur eine einjährige Bewährungsstrafe, wohingegen sein Komplize sechs Jahre hinter Gitter muss.
Axelrod hat nun iterierte Computersimulationen zu diesem Gefangenendilemma entwickelt. Bei solchen iterierten Spielen entfällt das Moment der Unkenntnis über das Verhalten des anderen. In den Simulationen zeigte sich, dass das einfachste und erfolgreichste aller eingereichten Programme der beteiligten Spieltheoretiker »Tit for Tat« war. Es sieht so aus, dass der Spieler zunächst auf Kooperation setzt und danach jeweils das tut, was der andere Spieler beim Zug zuvor getan hat: kooperieren oder defektieren (nicht kooperieren).
Axelrod (2009) schlägt nun vier Imperative als richtungsweisend für ein optimales Entscheidungsverhalten vor:
1. Sei nicht neidisch auf den Erfolg des anderen.
2.