Diese Selbstorganisation der Gene unterliegt in einem zweiten Schritt zwar der Selektion, sie fungiert hier allerdings, wie auch der Chaosforscher Stuart Kauffman ausführt, nicht als Ordnungsprinzip erster Ordnung, sondern lediglich als »Veto« gegenüber Organismen, die sich als nicht überlebensfähig erweisen. Die Ablehnung zufälliger Mutationsprinzipien versteht Bauer nicht als Determinismus, er spricht vielmehr von »intrinsischen biologischen Regeln« (Bauer 2008, 118). Sowohl Mutation als auch Selektion behalten demnach durchaus einen Beitrag zur Artenentwicklung in der modernen Evolutionsbiologie, beide bekommen jedoch einen anderen, nämlich sekundären, Stellenwert.
Im Sinne der Systemtheorie ist Leben demnach schon vor Mutation und Selektion durch den operationalen Aufbau bestimmt, Ordnung im Sinne einer spezifischen Selbstorganisation schon vor jeder Mutation vorhanden: »Das genomische Programm, welches den Urbauplan bewahrte, blieb in seiner Grundordnung die gesamte seitherige Evolution hindurch stabil.« (Bauer 2008, 132)
Ordnung ist bereits da
Mit der Mutation als spezifischer und deshalb nicht zufälliger Varianz treten danach ebenso wie mit der Selektion zwei Prinzipien hinzu. Ordnung kommt aber nicht erst mit diesen in die Welt, sondern ist immer schon vorhanden. Die Natur lässt dabei mehr überlebensfähige Varianten entstehen, als durch Selektionsdruck erklärt werden könnte, ein Prinzip, das auch als »Exaption« (Brosius 2005; Cooper et al. 2007) bezeichnet wird. Die Vielzahl neuer Gene und Genkombinationen geht damit weit über das hinaus, was zum unmittelbaren Überleben notwendig wäre, weil sich dies zu einem späteren Zeitpunkt noch als nützlich erweisen kann. Um Überlebensfähigkeit zu gewährleisten, dürfen genetische bzw. epigenetische Veränderungen dennoch wahrscheinlich nicht sehr groß sein, wenn man daran denkt, wie langsam organische Evolution erfolgt. So wird der mögliche Spielraum sicher ausgenutzt, drastische Änderungen würden den Organismus aber wahrscheinlich die Reproduktionsfähigkeit kosten. (Diettrich 1989)
Geht man einmal von einer Stabilität des genomischen Programms während der bisherigen Evolution aus (Bauer 2008), so kann man sich in der Tat fragen, warum der Ursprung dieses Ordnungsprinzips auf die Zeit der Erdentstehung datiert wird. Es ließe sich berechtigterweise, wenn auch noch ohne jegliche naturwissenschaftlich empirische Fundierung fragen, ob dieses Ordnungsprinzip nicht schon zehn Milliarden Jahre vorher, bei der Entstehung des Universums, vorhanden gewesen sein könnte. Das Ordnungsprinzip in der Natur wie auch in den daraus entstehenden Organismen wäre das gleiche und die Gegenüberstellung von Mensch und Natur damit unsinnig. In diesen makrokosmischen Verhältnissen stellt sich die Frage von Anpassung im Sinne von Repräsentanz der Umwelt gar nicht mehr, denn sie wäre durch eine Analogie der Entstehungs- und Ordnungsprinzipien von Organismus und Welt schon immer gegeben.
Anpassung
Geschlossenheit versus Offenheit
Bertalanffy war sich darüber im Klaren, dass die Annahme von Selbstorganisation und Geschlossenheit eines Systems auf der einen Seite und von Verwiesenheit auf Stoffwechselprozesse mit der Umwelt andererseits die Frage aufwirft, inwieweit Umwelt und Systemorganisation aufeinander abgestimmt sind. Eine einseitige Sicht, welche die Offenheit lebender Systeme betont, würde zur Abbildtheorie führen, also zu der Aussage, dass die innere Organisation eines Organismus die Außenwelt mehr oder minder abbilde oder repräsentiere. Eine Sicht, die einseitig die Selbstorganisation betont, würde die Unabhängigkeit eines Organismus von seiner Umwelt behaupten.
Biologisches Driften
Dieser Punkt ist deshalb so entscheidend für die Systemtheorie, weil er die Frage der Anpassung eines Organismus an seine Außenwelt betrifft bzw. die Frage, ob eine solche Anpassung für das Überleben überhaupt notwendig ist. Bertalanffy entscheidet sich für einen Mittelweg und nimmt damit wieder einmal einen Ausdruck, wie ihn auch die aktuelle Systemtheorie noch gebraucht, vorweg. Es ist der Begriff des »biologischen Driftens«, der die Koexistenz eigengesetzlicher Strukturen ausdrücken soll.
Für Bertalanffy ist klar, dass Tiere oder Menschen schon allein durch ihr Überleben einen Beweis dafür erbringen, dass ihre Organisation in irgendeiner Weise mit der Realität korrespondiert. »Korrespondenz« versteht er dabei nicht im schwachen Sinne, wonach die Eigengesetzlichkeit eines Organismus sich nicht in einen Gegensatz zur Gesetzlichkeit der Umwelt stellen darf. Bei einer »Korrespondenz« im schwachen Sinne würde ein Organismus in seinem Handeln durch die Umwelt nur behindert, im Extrem bis hin zum Untergang des Organismus. Abgesehen von diesen möglichen Behinderungen würde ein Organismus mehr oder weniger unbeeindruckt von den Strukturen der Außenwelt seinem Leben nachgehen – ein Gedanke, den die Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela in den 1980er-Jahren wieder aufnahmen.
Überlebensfähigkeit
Bertalanffy versteht die Korrespondenz von Organismus und Umwelt in einem starken Sinne, wonach eine völlige Übereinstimmung zwar nicht notwendig ist, ein bestimmter Grad an Isomorphie aber die Überlebensfähigkeit sichert. Die Art dieser Isomorphie stellt er mit einer Metapher dar, die das rote Licht einer Verkehrsampel als Symbol für Überlebensgefährdungen nimmt. Herannahende Autos oder Züge würden demnach einen Hinweis darauf erhalten, ob eine Gefahr besteht (rote Ampel) oder nicht (grüne Ampel), auch wenn die Gefahr, die in der Realität lauert, selbst nicht abgebildet wird. Wieso das Erkennen der Ampel als rot und die damit zusammenhängende Bedeutung eine Isomorphie voraussetzt, erklärt Bertalanffy nicht. Maturana und Varela streichen diese Annahme deshalb berechtigterweise später, indem sie darauf hinweisen, dass Überleben durchaus auch mit einem völligen Irrtum, was die Korrespondenz von Organismus und Umwelt angeht, möglich sei. Überleben können Organismen demnach auch dann, wenn die Symbole falsch gedeutet werden. Zum anderen spricht gegen die Ampelmetapher, dass die Möglichkeit eines Organismus, die Symbole zu erkennen, nicht durch die Symbole oder deren ursprüngliche Herkunft bestimmt wird. Vielmehr unterliegt diese Deutung selbst der Selbstorganisation des Systems, die Bedeutungen der Symbole werden erst im System geschaffen.
Dennoch war Bertalanffy mit seiner erkenntnistheoretischen Konzeption der Evolutionsbiologie seiner Zeit weit voraus. Selbst systemtheoretisch nahestehende Evolutionsbiologen, Vertreter der Symbiogenese – denen zufolge die Komplexität von Organismen auf Kooperation oder Verschmelzung mehrerer einfacher Organismen beruht –, haben bis Ende des 20. Jahrhunderts biologischen Erfolg mit Lernen gleichgesetzt. So weist etwa der Biologe Werner Schwemmler (1991) darauf hin, dass biologischer Misserfolg keinen Lernerfolg nach sich ziehe, dieser sei nur auf dem Gebiet der kulturellen Evolution zu erzielen. Evolutionäre Selbstorganisation bedeutet aber gerade kein Lernen im Erfolgsfall. Selbst der Misserfolg wäre nicht instruktiv, sondern nur ein Anstoßen der Selbstorganisation eines Organismus aufgrund eines graduell mehr oder minder beunruhigenden Vetos der Umwelt.
Ambiguität von Offenheit und Geschlossenheit
Während in einem geschlossenen System die Energie konstant bleibt, wird in offenen Systemen ständig Energie umgesetzt: aufgrund des fortwährenden Stoffwechsels. Wie ist nun die Ambiguität von Offenheit und Geschlossenheit lebender Systeme zu denken? Nicht alle Impulse aus der Umwelt verursachen strukturelle Veränderungen eines Organismus; vielmehr ist zu beobachten, dass er nur auf einen Bruchteil von Reizen reagiert, denen er ausgesetzt ist, auch wenn man in Betracht zieht, dass diese Auswirkungen nicht immer zeitlich unmittelbar erfolgen müssen.
Operative Eigengesetzlichkeit
Entscheidend ist, dass Veränderungen, die stattfinden, struktureller und nicht operativer Natur sind. Die operative Eigengesetzlichkeit eines autopoietischen Systems (»Autopoiesis« von griech. autos = selbst und poiein = machen) ist demnach durch die Umwelt kausal nicht zu beeinflussen. So erfährt ein autopoietisches System laufend strukturelle Änderungen, bewahrt aber zugleich die eigene Organisationsstruktur.
Der Körper ändert sich permanent
Viele der metabolischen Veränderungsprozesse spielen sich häufiger und schneller ab, als wir uns das vielleicht vorstellen. Innerhalb von zehn Tagen werden