Wenn Selbstorganisation schon vor jeder Selektion vorhanden ist, dann müssen wir den evolutionären Dreischritt der Prozesse von Variation, Selektion und Retention, wie ihn Fritz B. Simon (2007) beschrieben hat, erweitern zu: Selbstorganisation, Variation, Iteration und Selektion durch Reproduktion (auch diese ist als eine Form der Iteration zu verstehen). Selbstorganisation ist immer schon im Organismus vorhanden, bereits vor jeder Beeinflussung durch die Umwelt. Die Impulse der Umweltereignisse führen bei autopoietisch verstandenen Systemen zu sogenannten Variationen, also Versuchen des Systems, die durch die Umwelt entstandene Störung von außen (Perturbation bzw. Irritation) mit operationalen Veränderungen auszugleichen.
Iteration
Simon führt nach dieser Prozessphase die Iteration ein, indem »manche der dazu kreativ entwickelten Reaktionsschemata bei erneuter Irritation/Perturbation dieses Typs wiederholt werden und andere nicht wiederholt werden. Diejenigen, die nicht wiederholt werden, werden dann gewissermaßen … im Rahmen eines Lernschemas verworfen … diese Auswahl (Selektion) ist ein selbstorganisierter Prozess, der nicht zielgerichtet stattfindet. Und stabilisiert wird sie erst durch die Wiederholung, d. h. durch die Routinisierung, als Antwort auf einen bestimmten Typus von Umweltereignis. Die so gefundene Lösung für das Problem, das durch die Veränderung in einer relevanten Umwelt des Systems entstanden ist, wird dadurch beibehalten (Retention) und als Verhaltensschema dem jeweiligen System verfügbar.« (Simon 2007, 83f.)
Formel für den evolutionären Prozessablauf
Die Überlebensfähigkeit des Systems ist damit noch unberührt, sodass hier Iteration noch vor der Phase selektiver Reproduktion beschrieben wird. Möglicherweise ließe sich der evolutionäre Prozessablauf in Fritz Simons Konzept formalisiert also folgendermaßen darstellen:
Selbstorganisation (So) > Perturbation (P) > Variation (V) > Perturbation' (P') > Iteration der Variation (I(V)) > Retention (R)
Also:
(So) > (P) > (V) > (P') > (I(V)) > (R)
Die Iteration bzw. Stabilisierung wird dann mit der Selektion gleichgesetzt und damit mit der Viabilität bzw. Reproduktion. Zugleich wird die Iteration der Variation (I(V)) bei Simon als selektiver Prozess bezeichnet, der nicht zielgerichtet stattfindet. Hier stellt sich die Frage, wie dies zu denken ist, denn sind nicht die operationalen Prozesse selbstorganisatorischer Systeme autopoietisch zu verstehen, sodass sie keine Zielgerichtetheit auf die Umwelt, wohl jedoch auf die innere operationale Prozesslogik aufweisen? Dann wären selbstorganisatorische Systeme entelechisch: Sie tragen das Ziel ihrer Entwicklung immer schon in sich.
Wir wollen prüfen, ob die Formel zur Prozessbeschreibung so ausreicht, um systemisch-evolutionäre Prozesse vollständig zu beschreiben. Zur Vereinfachung gehen wir im Folgenden nur von einer erfolgreichen Variation aus, also von dem Fall, in dem die Variation (V) beibehalten und nicht verworfen werden muss. Hier stellen sich einige Fragen:
Wenn wir davon ausgehen, dass die operationale Struktur in Systemen bereits von jedem beliebigen Anfang an wirkt (So) und es das Ziel für die Systeme ist, diese Struktur aufrechtzuerhalten, so wirken Einflüsse als Perturbationen, die diese Aufrechterhaltung stören (P). Im Sinne der strukturellen metabolischen Kopplung von Systemen an die Umwelt ist zwar die Aufrechterhaltung nie homöostatisch und völlig geschlossen zu sehen, dennoch bewirkt der Wechsel der Stoffe nicht den Wechsel der inneren Operationen.
Perturbationen: stoffverändernd, nicht formverändernd
Perturbationen (P) sind nicht als formverändernd, sondern nur als stoffverändernd denkbar, mit anderen Worten, sie wirken strukturell und nicht operational. Reaktionen des Systems auf Perturbationen können deshalb als Variationen (V) bezeichnet werden, weil keine neue Information in das System getragen wird, sondern vielmehr die vorhandene Information variiert wird. Um die Neutralität dieses Vorgangs zu verdeutlichen, könnte man den Begriff der »Störung« deshalb auch durch den des »Impulses« ersetzen.
Wird nun eine Perturbation gleichen Typs wiederholt (P'), so entsteht nach obiger Formel eine stabilisierte Routine als Lösungsantwort des Systems, die Variation wird iteriert (I(V)). Unter evolutionärer Perspektive können wir fragen, ob dies bereits die Grundkonstante selbstorganisatorischer Systeme darstellt, Selbstorganisation also immer schon in der Ordnung ihrer Organisation als iterativer Prozess, der sich evolutionär gebildet hat, verstanden werden muss.
Richard Dawkins spricht dies beispielsweise mit der »Evolution der Evolutionsfähigkeit« an, wonach aufgrund des modularen Aufbaus der Evolution diese immer besser und auch schneller abliefe. Wie sollte aber diese Verbesserung sich anders erklären als durch das Resultat evolutionären Lernens? Zum anderen ließe sich fragen, ob es als evolutionär erfolgreiche Strategie gelten könnte, wenn Selbstorganisation in ihrer Grundinformation schon von Beginn an festgelegt wäre. Plausibler erscheint eine Festlegung auf grundsätzliche Strukturen, die aber gerade flexible Varianten für noch kommende Überlebensherausforderungen offen lassen. (Vester 2002)
Modifizierte selbstorganisatorische Systeme
Betrachtet man sehr große Zeiträume, würden der iterativen Variation somit modifizierte selbstorganisatorische Systeme folgen: (So'), (So''), (So''') …. (So∞). Dann gilt:
(So) > (P) > (V) > (P') > (I(V)) > (So') >
(So') > (P) > (V) > (P') > (I(V)) > (So'') > … usw.
Wir könnten demnach verkürzt schreiben, mit (S) als letztlich stattfindender Selektion:
Um das Konzept der Selbstorganisation besser zu verstehen, wollen wir uns nun mit den Unterschieden zur darwinschen Theorie befassen. Verdeutlicht werden sollen auch die Konsequenzen, die dies für Konkurrenz, Kooperation, Adaption etc. hat. Formal dargestellt lautet Darwins evolutionsbiologische Formel für Mutation (M), Selektion (S) und Replikation (R):
Anpassung an die Umwelt
Dies ist aber für unseren Kontext noch nicht aussagekräftig, weil die Rolle, welche die Interaktion zwischen Organismus und Umwelt spielt, hier nicht deutlich wird. Wir müssen demnach die Anpassung an die Umwelt als Selektionskriterium bei Darwin mit aufnehmen und der Variation selbstorganisatorischer Systeme gegenüberstellen.* Demnach würde nach erfolgter mutationaler Streuung der Umweltdruck (U) zu einer Anpassung (A(U)) des Organismus führen, der primär, wie der Name schon sagt, eine Anpassung an die jeweiligen Umwelteinflüsse darstellt. Ist die Anpassung erfolgreich, so erfolgt eine Selektion und möglicherweise im Weiteren die Replikation. Je höher die Anpassung, desto wahrscheinlicher ist der Selektionsvorteil. Anpassung wird dabei als Anpassung an die Umwelt, also auch an andere Organismen verstanden. Organismen stehen mithin in Konkurrenz um die bessere Anpassung an die Umwelt und die damit verbundene bessere Überlebensfähigkeit. Formal lässt sich dies ausdrücken als:
Ordnung durch Anpassung an die Umwelt
Ordnung kommt nach Darwin also spätestens auf der Ebene der Selektion (S) in die Welt. Bereits auf der Ebene der Anpassung ist jedoch ein Ordnungsprinzip auszumachen, denn der Organismus übernimmt die Struktur oder die Ordnung der Außenwelt, und wenn sich dies als erfolgreich erweist, wird sie beibehalten. Da die darwinistische Theorie davon ausgeht, dass die Außenwelt in ihrer Struktur erkennbar ist, lässt sich der Erfolg vom Organismus selbst erkennen und abschätzen, er wird also nicht lediglich von außen, von der Umwelt, im Sinne einer Überlebensfähigkeit bestimmt.