Dort pulst im Dunst der Weltstadt zitternd Herz!
Es grollt ein Schrei von Millionen Zungen
Nach Glück und Frieden: Wurm, was will dein Schmerz!
Nicht sickert einsam mehr von Brust zu Brüsten
Wie einst die Sehnsucht, nur als stiller Quell;
Hier stöhnt ein Volk nach Klarheit, wild und grell,
Und du schwelgst noch in Wehmutslüsten?
Die beiden klassischen sozialen Lieder formen sich: "Erntefeld" ("Es steht ein goldnes Garbenfeld") und "Der Arbeitsmann" ("Wir haben ein Bett, wir haben ein Kind"). Über die Lebens- und Liebeseinheit des eigenen Volkes, durch die es "dem hunderttausendfachen Bann" der Lebensnot und -niedrigkeit entwächst, drängt Dehmels Traum und Leidenschaft zur Menschheitsstunde: "Bis auch die Völker sich befrei'n — Zum Volk! — m e i n Volk, wann wirst du sein?" Und über die Menschheit hinaus stürmt sein Lebenswille ins Weltall: "Wir Welt!" Das ist das letzte Ziel, die Durchdringung von Eins und All. Den Weg führt uns die Liebe: "Wer so ruht an einem Menschenherzen — Ruht am Herzen dieser ganzen Welt."
Dieses Mysterium kündet der "Roman in Romanzen: Zwei Menschen" dreimal 36 Gedichte und drei Vorsprüche zu je zwölf Zeilen, die zusammen wieder 36 Zeilen ergeben. Alle Gedichte haben den gleichen Aufbau: eine Naturschilderung als Einleitung, die Worte des Mannes, die Worte der Frau, ein paar Schlußzeiten, die in neuer Einheit die Seelenstimmung zusammenfassen. Diese Strenge der Gliederung schafft architektonische Schönheit, aber hemmt und verbaut auch. Es kommt weder zur reinen epischen Erzählung noch zum reinen lyrischen Ausströmen. Überhaupt bleiben die epischen Elemente, die eigentliche Handlung, die Fülle der Schauplätze, bedenklich stofflich. Hinreißend ist der ekstatische Überschwung der Grundstimmung, der zwei Menschen aus ihrer Einzelhaft, durch die Liebe, zur Verbundenheit mit der Natur, der Menschheit, dem Weltall, zum "Weltglück" führt, bis selbst der Tod sie nicht mehr schreckt:
Wir sind so innig eins mit aller Welt,
Daß wir im Tod nur neues Leben finden.
So wächst Dehmels Ich-Bewußtsein in immer weiteren Kreisen zum Weltbewußtsein, nicht nur im Gefühlsrausch des Lyrikers, sondern im menschheitlichen Vorkampf. Die Harmonien zwischen Mann und Weib offenbaren sich ihm nur darum so machtvoll, weil er abgründige Disharmonien durchlitten und durchschritten hat. Seelische Helle wächst aus sinnlichem Dunkel. "Die Verwandlungen der Venus" zeichnen — stofflich überlastet — diesen Weg der Läuterung: "Aus dumpfer Sucht zur lichten Glut."
Alle Menschheitsbeziehungen werden in ihrem Doppelspiel von Haß und Liebe, von Selbstbehauptung und Hingabe neu zur Frage gestellt. Wie Mann und Weib sich gegenüberstehen, so Vater und Sohn. Im Kampf der Generationen, der alten und jungen Weltanschauung ruft er als Vater — als erster Vater! — seinem Sohne zu:
Sei du! Sei du!
Und wenn dereinst von Sohnespflicht,
Mein Sohn, dein alter Vater spricht,
Gehorch' ihm nicht! Gehorch' ihm nicht!
Als der Weltkrieg ausbrach, da war es Dehmel, dessen tapferer Lebensglaube stets gewesen, durch die Zeit hindurch zur neuen Zeit und Form sich vorzuringen, Pflicht und Bedürfnis, als einundfünfzigjähriger, ungedienter, gemeiner Soldat in das Heer zu treten und den Entscheidungskampf der neuen Menschheit mitzufechten: "Die Begleitumstände sind allerdings scheußlich, aber das Hauptziel des Kampfes ist herrlich und heilig; denn wir wollen den Frieden auf Erden schaffen, a l l e n Menschen zum Wohlgefallen... Etwas mehr Himmelsluft wird sich doch nach diesem reinigenden Sturm ausbreiten, bei uns selbst wie im ganzen Völkerverkehr. Und was war der Hauptgrund, warum ich alternder Mann zur Waffe griff, nicht bloß aus Vaterlandsliebe und Abenteurerlust; da mein Körper noch kräftig genug dazu ist, muß ich ihn einsetzen für die geistige Zukunft." Als Soldat der neuen Menschheit ist er gestorben, an einer Venenentzündung, die er sich im Kriege zugezogen.
Das Kämpferpathos Dehmels, das anfangs dem jungen Schiller nah ist, bevorzugt die charakteristische vor der musikalischen Form. Jeder Glätte in Bild, Rhythmus und Strophe setzt er herbe Eigenheiten entgegen. Der vierzeiligen Strophe gibt er eine fünfte Zeile mit, ohne Reim, von besonderem Rhythmus. Bild und Versform wirken oft geschmiedet und gehämmert. Auch seine "impressionistischen" Naturbilder sind keine nachgiebige Eindruckskunst, sind Umwandlung üblicher, erstarrter Anschauungen in charakteristische, von innen bewegte Bilder.
In der Herbheit der inneren und äußeren Form ist ihm Paul Zech (geb. 1881) verwandt. Soziales Ethos erfüllt und durchbebt sein bäuerisch-westfälisches Blut. Einige seiner Väter schürften Kohle. Er selber hat nach Vollendung seiner Studien in tiefster sozialer Verbundenheit nicht nur als Dichter, sondern zwei Jahre auch als Mensch, als Arbeiter, am Leben der Bergleute teilgenommen in Bottrop, Radbod, Mons und Lens. In den Vers- und Novellenbüchern "Das schwarze Revier", "Die eiserne Brücke", "Der schwarze Baal" zieht sein Ethos die Machthaber, die Harthörigen und Verblendeten vor Gericht, Güte und Menschlichkeit für alle zu fordern. Die Stoffwelt des jungen Naturalismus kehrt wieder: Fabriken, Zechen, Sortiermädchen, Fräser, aber durchseelt von einem Ethos und Pathos, das aus religiösen Tiefen, aus Christi Herzen steigt und zur "Neuen Bergpredigt" berufen ist. Dieser religiösen Menschheitsverbundenheit mußte der Weltkrieg, Welthaß und -gemetzel, die Zech als ungedienter gemeiner Soldat in den furchtbaren Kämpfen (Verdun und Somme) miterlebte, zum apokalyptischen Grauen, zur Sünde wider den Heiligen Geist werden. Von den tausend Kriegslyrikern hat Zech allein von Anfang an den Krieg in seiner metaphysischen Bedeutung erlebt und gestaltet. Seine Gedichtbücher "Golgatha" und "Das Terzett der Sterne" reißen den Krieg aus den historisch-politischen Verknüpfungen vor das Angesicht Gottes.
Ewig sind wir Kain. Unser Dasein heißt: vernichten!
Käme tausendmal noch Christi Wiederkehr:
Immer ständen Henker da, ihn hinzurichten.
Fluch der Welt ist, daß uns Abel kindlos starb.
"Zweitausend Jahre noch nach Golgatha — Göttliche Jugend blutig auf der Bahre!" "Und immer neue Mütter stießen ihre Knaben — In immer helleren Scharen in das Feld — Als wär vernarrt die ganze Welt — Den Mord hinfort als Hausaltar zu habe? — ...Daß du, Gekreuzigter, nicht von dem Holz — Herabsprangst und mit Geißeln auf die Menge hiebst — Und klein zurück auf ihren Ursprung triebst." "Seit jenen Tagen braust durch das verführte — Geschlecht ein schriller Ton — Wie ihn schon einmal ausstieß der verlorene Sohn." Aber den wilden Lärm der Schlachten überschwillt die Musik der Sterne, wenn im Dämmern der Nacht Gott aus den Mauerflanken anderer Erden ein Orgelhaus erbaut; dann lösen sich die erdengrauen Kämpfer aus Blut und Schlamm der Schützengräben ins Licht und Lied der Sterne und singen mit dem Brüderheer der Toten und den brausenden Stimmen der Wälder die große Schöpferfuge:
Zuletzt ist Gott nur noch alleine
Zuckender Puls im All...
Weit über Wind und Wassern hämmert seine
Urewigkeit wie Flügel von Metall.
Ist Zechs Menschenglaube und -liebe von alttestamentlichem, prophetischem Eifer der Klage, des Zorns, der Forderung, so ist Franz Werfels (geb. 1890), des Pragers, Liebe zur Welt und Menschheit weicher, inniger, mystischer. Er stellt des Laotse Wort vor seine Gedichte: "Das Allerweichste auf Erden überwindet das Allerhärteste auf Erden" und Dostojewskis Wort: "Was ist die Hölle! Ich glaube, sie ist der Schmerz darüber, daß man nicht mehr zu lieben vermag." Immer tiefer und reicher sprechen