Fitness fürs Immunsystem. Ralf Kerkeling. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ralf Kerkeling
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783667122001
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von außen zu wehren. Neue Erreger können nicht mehr so spezifisch wie in der Jugend bekämpft werden. Forscher der Universität Colorado fanden heraus, dass der Organismus mit zunehmendem Alter verstärkt auf die Antikörperproduktion auf Basis der von früheren Infektionen zurückgebliebenen Gedächtniszellen setzen muss. Spezifische Antikörper gegen bisher unbekannte Erreger herzustellen wird zunehmend schwerer. »Wie Geist und Körper generell reagiert auch das Immunsystem im Alter schlechter auf neue Herausforderungen«, sagt Arbeitsgruppenleiter Professor John Cambier.

      Der Alterungsprozess beginnt schon früh im Leben. Mit Ende der Pubertät bildet sich der für die T-Zell-Reifung zuständige Thymus zurück. Bei 20-Jährigen ist das Organ merklich verkleinert. Das Immunsystem funktioniert in diesem Alter in der Regel noch sehr gut. Wie schnell es an Flexibilität und Schlagkraft verliert, können wir nicht zuletzt über unsere körperlichen Aktivitätsroutinen beeinflussen. Ein trainierter Ü50er kann über eine weit bessere Konstitution verfügen als ein bewegungsmuffliger 30-Jähriger. So nimmt ein ungesunder Lebensstil, womöglich mit viel Alkohol und Zigaretten, bereits in jungen Jahren erheblichen Einfluss auf unser Immunsystem. Derart vorgeschädigt, verliert es im Laufe des natürlichen Alterungsprozesses entsprechend schneller an Leistungsfähigkeit, lassen die Abwehrkräfte und Regenerationsfähigkeiten früher nach.

      In Zeiten von Covid-19 hören wir immer wieder, dass gerade ältere Menschen von schweren Krankheitsverläufen betroffen sind. Ist das immer so? Ab wann macht sich ein schwächeres Immunsystem in der Regel stärker bemerkbar, ab welchem Alter beeinflusst es Gesundheit und Wohlbefinden? Im Rahmen von Forschungen zu Infektionskrankheiten wurde eine erhöhte Sterblichkeit bereits ab dem 50. Lebensjahr festgestellt, ein Alter, in dem doch gerade erst die Best-Ager-Phase beginnen sollte, in der Frische und ein relativ hohes Fitnesslevel maßgeblich die Lebensfreude bestimmen. Aber viele sind zu diesem Zeitpunkt schon durch ein geschwächtes Immunsystem anfällig für Krankheiten verschiedenen Schweregrades. Natürlich darf man den Sport in seiner Wirkung nicht überschätzen. Auch die gesündeste Lebensweise ist kein Garant für lange Jugendlichkeit, um von schwerer Krankheit verschont zu bleiben. Aber die Wahrscheinlichkeit für gesundheitlichen Benefit ist doch sehr hoch.

      AUCH DIE GESÜNDESTE LEBENSWEISE IST KEIN GARANT FÜR LANGE JUGENDLICHKEIT, UM VON SCHWERER KRANKHEIT VERSCHONT ZU BLEIBEN. ABER DIE WAHRSCHEINLICHKEIT FÜR GESUNDHEITLICHEN BENEFIT IST DOCH SEHR HOCH.

      GIBT ES DAS IMMUNSTARKE GESCHLECHT?

      Um den Mythos »Männergrippe« kümmern wir uns später. Zunächst geht’s um den wissenschaftsbasierten Blick auf geschlechtsspezifische Unterschiede der Immunsysteme von Mann und Frau. Hier sind die Expertisen von Endokrinologen und Genetikern gefragt, also von Spezialisten in Hormonund Vererbungsfragen. Seit ein paar Jahren gesellen sich auch noch Epigenetiker dazu, die sich nicht auf unterschiedliche Genvarianten, sondern auf Abweichungen in der Genregulation konzentrieren. Im konkreten Fall heißt das beispielsweise: Wird das gleiche für das Immunsystem relevante Gen im weiblichen und männlichen Organismus unterschiedlich stark ausgelesen, um mehr oder weniger Abwehrzellen herzustellen?

       ÖSTROGENE MACHEN »WAFFEN« SCHARF

      Zu den ersten Abwehrgeschossen des Immunsystems gehören Entzündungsreaktionen, die eindringenden Viren und Bakterien »einheizen«. Natürlich muss dieses Geschehen reguliert werden. Dafür gibt es Enzyme wie die Caspase 12. Ihre Aufgabe ist es, Entzündungsprozesse zu hemmen, um ein selbstschädigendes Dauerfeuer zu vermeiden. Wissenschaftler um Dr. Maya Saleh vom McGill University Health Centre in Montreal sind vor gut zehn Jahren auf einen bedeutenden Unterschied in der Caspase-12-Aktivität im Immunsystem von Männern und Frauen gestoßen. So ist das Gen, das den Bauplan für die Caspase 12 liefert, im weiblichen Organismus deutlich weniger aktiv. Dadurch wird weniger von dem Entzündungsbremser produziert und eindringende Krankheitserreger bekommen sogleich die volle Breitseite. Saleh und Kollegen wiesen nach, dass die schwache Aktivität des Caspase-12-Gens im weiblichen Organismus Folge der hohen Östrogenproduktion ist. Diese weiblichen Sexualhormone binden an die DNA und erschweren dadurch die Bauplanablesung für das entzündungshemmende Enzym.

      Bei den von Testosteron dominierten Männern hingegen werden die Ablesung des Caspase-Gens und die Produktion des Entzündungshemmers mangels hoher Östrogenspiegel nicht herunterreguliert. Es wird deutlich mehr Caspase 12 hergestellt, die den Entzündungsstatus auf niedrigerem Niveau hält und bei Kontakt mit Krankheitserregern nicht so schnell und effektiv reagieren kann. Dieses Beispiel zeigt die hohe Relevanz epigenetischer (genregulatorischer) Mechanismen. Trotz gleicher Genetik (Gene und Genprodukte) kommt es allein aufgrund unterschiedlicher Epigenetik (Regulation der Genaktivität) zu abweichenden physiologischen Wirkungen.

      Unterm Strich bedeutet das: Die von Entzündungsreaktionen getragene erste Abwehrlinie arbeitet bei Frauen aufgrund niedrigerer Caspase-Produktion effektiver als bei Männern. Aber es gibt auch hier die Kehrseite der Medaille. Durch die schnellere Auslösung von Feinde abwehrenden Entzündungsreaktionen steigt das Risiko für überschießende Immunreaktionen gegen körpereigene Strukturen. Solche selbstzerstörerischen »Autoimmunreaktionen« können zu chronischen Erkrankungen wie entzündlichem Gelenkrheuma, Zöliakie (Dünndarmschädigung durch Fehlbewertung von Gluten) oder einer folgenschwer die Schilddrüse beschädigenden Hashimoto-Thyreoiditis führen. Bezeichnenderweise sind Frauen deutlich häufiger von Autoimmunleiden betroffen, besonders in den Lebensjahren hoher Östrogenproduktion vor der Menopause.

       AKTE XY

      Genetisch entscheiden die Geschlechtschromosomen, ob ein Mensch als Frau oder Mann durchs Leben geht. Das weibliche Geschlecht wird durch zwei identische X-Chromosomen, das männliche durch ein X- und ein Y-Chromosom festgelegt. Dank der epigenetischen Forschung gibt es erste Indizien, dass dies Konsequenzen für die Leistung des Immunsystems hat – möglicherweise so weitreichend, dass sie maßgeblich für die längere Lebenserwartung der Frau sind. So beherbergt das X-Chromosom mehrere Gene mit den Bauplänen für besondere RNA-Moleküle, nicht aber das Y-Chromosom. RNA? Da war doch was! Als Erbmaterial von SARS-CoV-2 hat die RNA (Ribonukleinsäure) eher traurige Berühmtheit erlang. Dabei handelt es sich um eine sehr variantenreiche Klasse von Biomolekülen, die im menschlichen Zellstoffwechsel und auch für die Steuerung des Immunsystems wichtige Funktionen übernehmen.

      In diesem letzten Punkt haben Epigenetiker um Claude Libert von der Universität Gent herausragende Erkenntnisse gewonnen. Demnach finden sich nur auf dem X-Chromosom Gene für kleine RNA-Moleküle – sogenannte microRNAs. Diese sind wichtige epigenetische Regulatoren für die Aktivität von Immungenen. Entscheidend ist nun, dass Besonderheiten in der weiblichen XX-Kombination die Immungenregulation durch microRNA variabler und weniger störanfällig machen als in der männlichen XY-Paarung. Das Ganze klingt sehr kompliziert – ist es auch. Details würden den Rahmen dieses Buchs sprengen.

       MICRORNAS VOM X-CHROMOSOM MACHEN FRAUEN IMMUNSTARK

      •RNA ist aus ähnlichen Bausteinen konstruiert wie die menschliche DNA.

      •RNA fungiert sehr variantenreich als Erbmaterial vieler Viren, aber auch als multifunktionales Molekül in menschlichen Zellen.

      •MicroRNAs mit Wurzeln auf dem X-Chromosom sind wichtige Genregulatoren im Immunsystem.

       MÄNNLICHE UNVERNUNFT

      Als ob es nicht schon genug wäre, dass der XY-Status und die höhere Testosteronproduktion das männliche Immunsystem schwächeln lassen, begünstigt der männliche Sexualhormonhaushalt auch noch eine Reihe psychischer Eigenheiten, die seiner Immunstärke schaden. Übersteigerter Ehrgeiz, Wettkampfstress, selbst auferlegter Leistungsdruck, der erschreckend oft mit Schmerzmittelabusus kombiniert wird, sind bei männlichen Sportlern deutlich weiter verbreitet. Gefährdet sind besonders leistungsorientierte Freizeitsportler, die nicht der Supervision eines Betreuerstabs unterliegen. Mahnungen aus dem familiären Umfeld werden oft als inkompetentes