Das Informationsbüro des Europäischen Parlaments in Zusammenarbeit mit dem sozialen Netzwerk OurSpace.cz lädt ein zu einer Diskussion, veranstaltet von der Gesellschaft Europäische Werte. Presse-Briefing: Gehen wir verantwortungsvoll an die Wahlen zum Europaparlament heran? Welche Parteien nehmen an der Kampagne teil? Sind die unabhängigen Kandidaten tatsächlich unabhängig?
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Richard machte einen Schritt. Und noch einen. Konzentriert, mit maximaler Vorsicht. Das Wasser reichte ihm stellenweise bis zu den Knien, anderswo bis zur Hüfte. Der Grund bestand aus glatten Steinen, die unter den Füßen wegrutschten und das Gehen genauso erschwerten wie die reißende Strömung selbst. Es war März und er watete nackt und barfuß durch einen Gebirgsfluss, aber schon längst nahm er die Kälte von Wasser und Luft nicht mehr wahr. Nur den Krampf in den erhobenen Armen, die den Tornister mit der Kleidung und der Waffe umklammerten. Lewan war inzwischen am anderen Ufer, Richard hatte noch ein paar Meter.
Er schaute auf Martins trainierten Rücken vor sich und überlegte, ob dem genauso die Arme abstarben. Falls ja, ließ er sich nichts anmerken. Alles, was er sich hier zumutete, nahm er mit absoluter Selbstverständlichkeit hin. Es war Martin gewesen, der den Kontakt hierher in die Slowakei und zur Patrola aufgetan hatte, kurz nach Geworgs Tod. Dem Mord an Geworg, präzisierte Richard in Gedanken. Hauptsache nichts verschleiern, keine Euphemismen. Geworg Arojan war hinterhältig aus dem Weg geräumt worden, bei Lewan Manusch hatte dazu nicht viel gefehlt. Deswegen wateten sie gerade durchs eiskalte Wasser. Das war unerlässlicher Bestandteil der Entscheidung, die sie getroffen hatten. Einer Entscheidung, die ihre Leben von Grund auf verändern würde. Schon heute Nacht.
Ein Stück entfernt schrie ein Vogel und Martin blieb stehen. Mit einer Kopfbewegung deutete er an, dass irgendwas los war. Richard richtete seinen Blick aufs Ufer. Lewan kauerte hinter einer Gruppe von Kiefern und schaute mit dem Fernglas zum Fuß des Berges, der das Tal abschloss.
„Das Team von Karol“, verkündete er, als Richard bei ihm angekommen war, und reichte ihm das Fernglas. Richard hielt es sich vor die Augen. Es dauerte einen Moment, bis er die vier Gestalten in den Tarnanzügen ausmachen konnte. „Sie haben uns noch nicht entdeckt.“
Er sprach an der Grenze zum Flüstern, obwohl das angesichts der Umstände überflüssig war. Das Wasserrauschen übertönte alle Geräusche. Richard gab Martin das Fernglas zurück und zog sich hastig an. Mit Blicken schätzte er die Entfernung zur Ruine der Mühle.
„Das packen wir“, befand er. Aus dem eingestürzten Dach ragten zwei Schornsteine, an einem von ihnen würden sie ihre Standarte hissen. Von der gesamten Patrola waren sie in der kürzesten Zeit am dichtesten ans Ziel herangekommen. Den Hauptverdienst daran trug Lewan. Er hatte sie nicht geschont, aber auch sich selbst nicht. Seit dem brutalen Überfall letztes Jahr (eine gebrochene Rippe, Muskelfaserriss, Bluterguss im Knie) war er in seiner Beweglichkeit immer noch eingeschränkt und hatte sicher auch noch Schmerzen, aber er ließ sich nichts anmerken. Er war fünf Jahre älter als Richard, in Sachen Selbstbeherrschung allerdings trennten sie Jahrhunderte. Die tausendjährige kasmenische Geschichte von Überlebenskämpfen war für Lewan auf jedem Schritt eine Stütze, das kasmenische Blut in seinen Adern trieb ihn an wie Benzin mit hoher Oktanzahl. Richard erinnerte er an einen kantigen, unverwüstlichen Offroader.
„Hier lang.“ Er machte eine Kopfbewegung in Richtung Mühlgraben. „Martin sichert uns.“
Ideal wäre es, wenn sie Adam dabei hätten; sie würden ihn an den Kiefern postieren und er könnte das andere Ufer überwachen. Aber sie hatten ihn nicht dabei. Das Anwaltssöhnchen hatte sich ins Hemd gemacht. Nicht wegen der heutigen Aktion, sondern aus Angst davor, was danach käme. Sie hatten einen detailliert ausgearbeiteten Plan. Adam hatte ihn ein halbes Jahr lang mit ihnen vorbereitet, aber im letzten Moment war er auf die Bremse gestiegen. Ohne Vorwarnung. „Sorry, Jungs“, hatte er eine halbe Stunde vor ihrer Abreise aus Prag gesagt, sichtlich zerknirscht vom eigenen Verrat. „Seid nicht sauer, ich pack das nicht. Ich weiß, Geworg hätte sich’s verdient, aber ich bin ein Versager. Ich schätz mal, ich hab bis jetzt einfach nur mein Maul aufgerissen.“ Sie waren nicht sauer gewesen. Kein vorwurfsvolles Wort war gefallen. Vielleicht hatten sie alle nur ihr Maul aufgerissen, das würde sich noch rausstellen. Mut war keine messbare Größe und Versagertum schon gar nicht. Ein Schissometer gab es nicht. Jeder musste selber in den Spiegel schauen. Manch einem hob sich bei diesem Anblick der Magen, aber das gehörte dazu.
Richard kam unwillkürlich der Gedanke, was wohl sein Vater sagen würde, wenn er ihn jetzt sehen könnte. „Das hast du von mir“, verkündete er ab und zu über eine von Richards Eigenschaften (ausnahmslos ging es um Charakterzüge, die sein Vater schätzte) und klopfte seinem Sohn stolz auf die Schulter. „Du bist genau wie ich“, versicherte er ihm. Richard hoffte, dass das nicht so war. Sein Vater hatte keinen Schimmer von der Patrola. Von nichts, was in Richards Leben eine wichtige Rolle spielte. Als er letztes Jahr seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert und verkündet hatte, dass er für die gesamten Sommerferien mit einer humanitären Mission nach Kambodscha gehen würde, hatte ihn sein Vater gefragt, wozu er dort nütze wäre. Das hatte er nicht bissig gemeint, sondern todernst. Er hielt Richard für einen ratlosen Grünschnabel, auf den er nach wie vor ein Auge haben sollte, dem er schlaue Ratschläge geben und die Welt erklären musste. Seine Welt. Ihm war nicht klar, dass sich ihre Welten immer weiter voneinander entfernten. Als Richard aus Kambodscha zurück war, konnte er dieses Auseinanderdriften nicht mehr aufhalten. Und wollte es auch nicht.
Geduckt ging er hinter Lewan her und checkte die Umgebung ab. Er bemühte sich, absolut geistesgegenwärtig zu sein. „Mindful“ hatte Geworg das immer genannt, und obwohl er diese Achtsamkeit intensiv trainiert hatte, konnte ihn das nicht vor der Hinrichtung bewahren. Wie immer, wenn er sich Geworgs Ende vorstellte, biss Richard unwillkürlich die Zähne zusammen und seine Halsmuskulatur spannte sich an.
Er schluckte, um die Spannung zu lösen, und konzentrierte sich darauf, durch das Bett des Grabens zu gehen. Allerdings konnte er seine Gedanken nicht im Zaum halten, schon bald landeten sie wieder bei seinem Vater. „Was willst du damit beweisen?“, hatte der Richard angewidert gefragt, als er vor einiger Zeit die Hanteln in seinem Zimmer entdeckt hatte. „Denkst du, dass Muskeln dich zu einem richtigen Kerl machen?“ Damals waren sie noch in der Lage gewesen, miteinander zu kommunizieren, und Richard hatte versucht, seinen Standpunkt zu erläutern. Vergeblich. Sein Vater hatte vor Stärke Respekt, aber nur vor so einer, die Macht, Einfluss und Karriere bedeutete. „Mach dein Abitur und den Eignungstest fürs Studium, das ist der Ausgangspunkt zum Erfolg“, predigte er. Sich körperlich in Schuss zu halten, hielt er für ein Anzeichen von Primitivität. Niemals hätte er freiwillig Sport gemacht. Die Rekruten aus der Patrola hätte er als Hohlköpfe abgestempelt. Er hätte gesagt, dass sie mit diesen Kriegsspielen nur irgendeinen Minderwertigkeitskomplex therapierten.
Richard schüttelte den Kopf. Sein Vater rümpfte über die Kriegsspiele zwar die Nase, hatte aber selber eine Pistole. Die hatte er in seiner Schreibtischschublade versteckt und Richard hatte sie sich heimlich ausgeborgt. Eine Makarov 9 mm. Wunderschön brüniert, hartverchromter Lauf, Magazinauswurf mit dem Daumen, für Richards Hand wie geschaffen. Präzise. Total verliebt war er in sie. Er hatte Munition aufgetrieben, und wann immer es möglich war, gingen er und Martin damit schießen. Jedes Mal reinigte er sie anschließend und legte sie zurück an Ort und Stelle. Er verhielt sich umsichtig, aber sein Vater war höchstwahrscheinlich hinter seine Ausleihaktionen gekommen, denn er hatte sich einen Safe zugelegt, und Richard hatte lange gebraucht, bis er wieder an die Pistole rangekommen war. Bei jeder passenden Gelegenheit spielte er mit der Ziffernfolge rum (ein paarmal musste er schleunigst durchs Fenster in den Garten verschwinden, damit ihn Opa oder Ma nicht erwischten), er dachte schon, dass er aufgeben müsste, doch schließlich hatte er den Code geknackt. Nach kurzer Freude stellte sich Zorn ein. Und Bedauern. Das, was er im Safe außer der Pistole noch fand, bestätigte