Die Residentur. Iva Prochazkova. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iva Prochazkova
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783992002740
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mit ihnen seine Freizeit, und er vermied Gequatsche auf den Fluren. Dadurch wurde er als Mensch mit Noblesse verbucht, aber der wirkliche Grund seiner verbalen Diszipliniertheit war seine heimliche Furcht, dass ihm der Sinn für Humor fehlte und irgendjemand darauf kommen könnte. In einer Nation, die sich selbst voller Stolz als ein Volk von lauter Schwejks bezeichnete, war das ein schlimmeres Handicap als chronischer Mundgeruch.

      „Opasková hat sich in die erste Liga hochgekämpft, und dazu hat sie keine Krücke gebraucht“, sagte er. „Die ist gut.“

      Ihre Bewegung DIE STIMME befand sich im politischen Spektrum rechts von der ČMD, aber Štěpán spürte, dass Zora Opasková seine direkte Widersacherin war. Eine gefährliche obendrein. Sie hatte einen guten Draht zu Bevölkerungsgruppen, die anzusprechen ihm nicht gelang. Aufmerksam verfolgte er ihre Reden, kannte ihre Standpunkte, in ihrem Wortschatz fand er seine eigenen Ausdrücke wieder (die geistvolleren). Unablässig suchte er nach einer Möglichkeit, sich selber treu zu bleiben und sich dabei trotzdem von ihr abzugrenzen.

      „Die hat Eier in der Hose“, verkündete Pecková.

      „Gutes Wahlkampfmotto“, befand der Chauffeur. Štěpán sah im Rückspiegel sein Gesicht. Es war ernst, er schien über die Verwendbarkeit des Slogans tatsächlich nachzudenken. Zora Opasková – hat Eier, auf die Europa schaut. Štěpán wandelte den Schriftzug auf dem Plakat ab, das in diesem Moment an seinem Fenster vorbeiglitt und hinter der Heckscheibe verschwand.

      „Wir legen unser Material aus und dann gehen wir was essen, oder?“, schlug Fára vor. Er war jünger als Štěpán, aber alles an ihm schien abgenutzter zu sein. In den immer leicht triefenden Glubschaugen sah man deutlich die Spuren von all den Rückziehern, die er in seinem Leben machen musste, und auch von all denen, die ihn erst noch erwarteten. Während der letzten beiden Monate, als sie im Zuge des Wahlkampfs miteinander gearbeitet hatten, hatte Štěpán oft Fáras Urteilsvermögen und seinen Überblick über die tschechische Politikszene zu schätzen gewusst, gleichzeitig waren ihm aber auch seine Bildungslücken nicht entgangen. Er war ein „lowbrow“, wie Bert van Boxen gesagt hätte, Štěpáns langjähriger holländischer Freund. Vielleicht hätte der sogar „domkop“ gesagt oder „partijfanaat“. Štěpán beneidete Bert um seinen Mut zur politischen Inkorrektheit, die er selbst sich nach allen Regeln der Kunst in seiner Funktion nicht erlauben durfte. Bert allerdings pfiff auf die Regeln, und gerade das hatte ihn möglicherweise bis auf den Ministerposten in Den Haag befördert. Falls Štěpán bei den Wahlen Erfolg hätte und einen Sitz im Europäischen Parlament einnehmen würde, könnte er mit Bert viel häufiger in Kontakt sein als bisher. Darauf freute er sich.

      „Wo wird denn hier anständig gekocht?“ Pecková drehte sich zum Chauffeur um, der, wie sich in den letzten Tagen gezeigt hatte, reichhaltige Gastrokenntnisse quer durchs Land hatte und ihnen ein nützlicher Ratgeber war.

      „Im Navarra“, sagte er, ohne zu zögern. „Da hab ich super gegrilltes Schweinemedaillon gegessen.“

      „Ich hab keinen Hunger“, redete Štěpán sich raus. Er musste mal eine Weile allein sein. „Ich vertret mir ein bisschen die Beine.“

      Er beschloss, auf die Post zu gehen und unterwegs in irgendeinem Bistro Station zu machen. Der Besuch auf der Post war nicht dringend, er hätte ihn auch verschieben können, aber sein schlechtes Gewissen nagte an ihm. Schon ein Vierteljahr hatte er kein Geld geschickt, und wie üblich, wenn er mit den Zahlungen nachlässig war, tauchte beim Einschlafen Eržikas Bild vor ihm auf. Seltsam war, dass es auch nach Jahren nichts von seiner Strahlkraft verloren hatte. Štěpán nahm es in diversen Aspekten präziser wahr als das Bild seiner Frau. Alle Muttermale waren an ihrem Platz, das mahagonifarbene Haar war nicht verblichen, und wenn sie mit ihren fein geschnittenen Lippen den linken Mundwinkel hob, verursachte das bei ihm nach wie vor das gleiche Stechen in der Brust. Es war ein minimalistisches Lächeln voller Vertrauen. Auf dem Foto in dem vergilbten Papprahmen lächelte sie allerdings nicht. Sie hatte es zu ihrem neunzehnten Geburtstag in einem Atelier in Košice anfertigen lassen und unten rechts in die Ecke geschrieben: Für meinen geliebten Štěpán – Eržika. Er hatte es in einer Schreibtischschublade zu Hause in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt (ein abseits gelegener Raum neben der Garage, den er als sein Revier betrachtete, er machte selbst sauber und ging davon aus, dass er dort nichts hatte, was den anderen Haushaltsangehörigen einen Vorwand geboten hätte, hineinzugehen), bis er festgestellt hatte, dass nicht einmal dieses Territorium sicher war. Jetzt lag das Foto im Safe.

      „Keine Angst, ich bin rechtzeitig wieder da“, versicherte er Fára und machte sich auf den Weg zur Post am Horní náměstí. Er schlug ein forsches Tempo an, das Alleinsein war befreiend. Gleichzeitig machte er sich Vorwürfe. Nicht einmal beim Flyer-Auslegen half er ihnen. Die werden sagen, dass ich kein Teamplayer bin, dachte er. Sein ganzes Leben lang hatte er im Team gearbeitet, zuerst für die Niederländisch-Tschechische Handelskammer, später in verschiedenen Bereichen des Industrie- und Handelsministeriums bis hin zu seiner jetzigen Position beim Amt für Ein- und Ausfuhrkontrolle, aber Teamgeist besaß er nicht. Im Prinzip war er elitär. Er glaubte, dass es zwischen Menschen angeborene Unterschiede gab, die man nicht vom Tisch wischen konnte und die dem Schlaueren, Fähigeren oder sonstwie Berufenen das natürliche Recht gaben, die Zügel in der Hand zu haben. Das war keine populäre Ansicht und er bemühte sich, sie zu verbergen, aber nicht immer gelang ihm das auch. Nicht einmal vor seinem Sohn konnte er sie geheim halten.

      Als er an Richard dachte, griff er nach seinem Handy. Er war neugierig, ob er diesmal rangehen würde. In letzter Zeit knirschte es ordentlich zwischen ihnen; Auseinandersetzungen waren an der Tagesordnung und hatten ein zunehmend gröberes Kaliber. Vor Štěpáns Abreise aus Prag waren sie heftiger aneinandergeraten als üblich. Die Anschuldigung, die ihm Richard um die Ohren gehauen hatte, war so unverschämt gewesen, dass Štěpán in die Luft gegangen war. Er hatte seinem Sohn eine Ohrfeige verpasst, und der (energiegeladene neunzehn Jahre, ideales Verhältnis von Muskelmasse und Körperfett, gesundes Selbstbewusstsein, schlagfertige Reflexe) hatte sich, ohne zu zögern, revanchiert. Štěpán war froh, dass sie allein zu Hause gewesen waren, andererseits war ihm klar, dass er sich vor Ehefrau und Vater mehr zusammengerissen hätte und die Situation nicht so eskaliert wäre. Auch Richard hätte sich besser im Griff gehabt. Er liebte seine Mutter und seinen Großvater und benahm sich in ihrer Gegenwart Štěpán gegenüber weniger bockig. „Noch ’n Diskussionsbeitrag, Pa?“, hatte er mit einem verächtlichen Grinsen gesagt, die Antwort allerdings nicht mehr abgewartet. Er schloss sich in seinem Zimmer ein, fing an zu pfeifen und kam bis zu Štěpáns Abreise nicht mehr heraus. Alle folgenden Anrufe ließ er unbeachtet. Einschließlich des jetzigen. Es machte sogar den Eindruck, als hätte er sein Handy ausgeschaltet. Eine Stimme verkündete, der angerufene Teilnehmer sei momentan nicht erreichbar.

      „Kasper dich ruhig aus, mein Lieber“, nuschelte Štěpán in seinen Schal. „Das wird dir schon noch vergehen.“

      Er steckte das Telefon wieder ein und ging weiter. Wie die meisten Väter war er überzeugt davon, seinen Sohn gut zu kennen. Er hatte großen Wert auf seine Erziehung gelegt. Von klein auf hatte er ihm beigebracht, was er selbst als lebenswichtig erachtete: nicht dem Selbstmitleid zu verfallen und Ängste zu überwinden. Seinen Zielen kompromisslos, aber clever zu folgen. Nicht gegen den Wind zu pinkeln. Er liebte ihn, und auch wenn er es ihm nicht sagte, ging er davon aus, dass Richard von seinen Gefühlen wusste und sie erwiderte. Die momentane Rebellion bedeutete ganz sicher nichts anderes als den Versuch, sich selbst zu beweisen, dass er inzwischen erwachsen war. Physisch und intellektuell war das nicht zu leugnen, aber der emotionale Teil seines Wesens steckte noch mitten im Reifungsprozess. Bisher hatte er sich keinen Schutzpanzer zugelegt. Es bestand die Gefahr, dass ihn der erste Lebenskonflikt unheilbar verwunden würde.

      Ich war neunzehn, als ich erfahren habe, was Liebe auf Leben und Tod bedeutet, wurde Štěpán bewusst, und wie üblich packte ihn die Verblüffung, wie viel Zeit seit damals verflossen war und wie wenig ihn diese Zeit verändert hatte. In gewisser Hinsicht kam er sich immer noch vor wie damals, als er auf dem Bahnhof in Moskau aus dem Waggon gesprungen war und zum ersten Mal die stickige Luft jener Stadt eingeatmet hatte, die sein Leben unwiderruflich beeinflussen sollte. Ein Leben, das ohne jenes ohrenbetäubende Bremsen des internationalen Schnellzugs vor fünfunddreißig Jahren völlig anders abgelaufen