Auch in Geworgs Leben hatte der Krieg zu einer wesentlichen Änderung geführt: Sein Herumirren hatte jetzt ein Ziel. Die letzten Monate hatte er als Kriegsreporter direkt im Brennpunkt der Kämpfe und im kasmenischen Hinterland verbracht, in das sich der Krieg immer tiefer hineinfraß wie eine unerbittlich voranschreitende Krankheit. Er glaubte nicht an Wunder, machte sich keine Illusionen von einer plötzlichen Genesung des Landes. Er wusste, dass er aus allen Kräften dazu beitragen musste, das Leiden seiner Landsleute, von dem die restlichen Europäer nur eine nebulöse Vorstellung hatten, zumindest ein wenig abzumildern. Der Kasmenien-Krieg war für sie genauso fiktiv wie Star Wars, nur viel weniger faszinierend.
Bevor er und seine Freunde heute auseinandergegangen waren, hatten sie die aktuelle Lage besprochen. Sie wurde immer hoffnungsloser. Der friedlich schlafende Prager Außenbezirk hier schien von Jeremesch und Waparan (von dort hatte sich Geworg ein persönliches Souvenir mitgebracht, eine immer noch empfindliche Wunde nach einem Granatsplittertreffer unter einer Rippe), von Gregoripol und anderen Städten seines Heimatlandes unglaublich weit entfernt zu sein. Ganze Galaxien trennten sie voneinander. An der Bushaltestelle, wo sich zwei Straßen kreuzten, die von langen Reihen aus Plattenbauten gesäumt waren, hatten sich Geworg und seine Freunde verabschiedet und jeder war in seine Richtung davongegangen. Nach ein paar Schritten war ihm der Gedanke gekommen, dass er vorsichtiger sein und seine übliche Route ändern sollte. Das Nichteinhalten von eingefahrenen Gewohnheiten gehörte zu den selbstverständlichen Regeln, um sich selbst zu schützen, aber dann hatte er es doch nicht getan. Er war müde gewesen, der Wind hatte kalt durch sein leichtes Hemd geblasen. Er wollte so schnell wie möglich zu Hause sein.
Das erste Geschoss erwischte ihn am Oberarm, nach dem zweiten Treffer zwischen die Schulterblätter fiel er zu Boden. Die Schüsse waren dank Schalldämpfer kaum zu hören, die Straße war leer, aus keinem Fenster ertönte ein Laut. Nicht ein Bewohner des gigantischen Wohnkomplexes ließ sich durch die nächtliche Begebenheit im Schlaf stören. Geworg begriff, dass er keine Chance hatte – seine Zeit in Dormahor war zu Ende. Ein starker Selbsterhaltungstrieb, den er über zahlreiche Generationen grimmiger kasmenischer Vorfahren geerbt hatte, befahl ihm dennoch, jetzt nicht aufzugeben. Trotz Schmerzen und schwindendem Bewusstsein kroch er mit zusammengebissenen Zähnen auf einen nahegelegenen überdachten Müllplatz zu und wusste doch gleichzeitig, dass er, auch wenn er es bis dorthin schaffen würde, nicht in Sicherheit wäre.
Das Auto hielt an, er hörte hastige Schritte und begann das Abun Dbaschmajo aufzusagen. „Wenn du an Ihn glaubst, wird sich der Himmel für dich auftun“, hatte ihm seine Mutter früher immer versprochen. Zum letzten Mal hatte er gebetet, da hatte sie noch gelebt, seit jener Zeit war ihm das Vaterunser kein einziges Mal in den Sinn gekommen. Jetzt konnte er sich ohne die geringste Mühe daran erinnern. Er betete weiter, nach „nehwe sebjonoch“ folgte der dritte Schuss, der direkt auf sein Herz zielte. Und der Himmel tat sich auf.
Vor zwei Stunden ereignete sich am Stadtrand von Prag ein ernster Zwischenfall, bei dem ein nächtlicher Passant erschossen wurde. Nach bisher nicht bestätigten Informationen handelt es sich um den kasmenischstämmigen Journalisten und Blogger Geworg Arojan. Obwohl es die Polizei fürs Erste ablehnt, das Geschehene zu kommentieren, zeichnen sich in diesem Zusammenhang schon jetzt zahlreiche beunruhigende Momente ab. Eine detaillierte Analyse hören Sie nach unserem Frühnachrichtenblock.
Rádio Gejzír
Der Weg war schlammig, stellenweise aufgeschottert und führte zwischen abgeernteten Feldern hindurch. Noch wurde es nicht dunkel, aber ein dichter Regenschleier verhüllte die Konturen von Prag am Horizont. Milan hielt ein Stück vom Rand eines Wäldchens entfernt und ließ den Motor laufen. Er streckte die Hand zur Ablage unter dem Radio aus, wo er seine Zigaretten hatte, aber dann überlegte er sich’s anders. Erst hinterher.
„Da isser schon“, sagte er. Die Umrisse des Geländewagens, der unter den Bäumen parkte, waren gut zu erkennen. Er bezweifelte nicht, dass es der von Mister Monny war, genauer gesagt: dass der mit ihm hergekommen war. Genauso wenig Zweifel hatte er daran, dass keins von den Autos, mit denen der Typ rumfuhr, in Wirklichkeit ihm gehörte. Er benutzte sie einfach. Und weil es durch die Bank weg teure Autos waren, die er wechselte wie seine Socken, hatte Milan Respekt vor ihm. Er bewunderte Geld – und Menschen, die fähig waren, sich Zugang dazu zu verschaffen. Seine Vorsicht nahm dadurch in keiner Weise ab. Gerade solchen Leuten konnte man nicht trauen.
„Bleib sitzen“, fuhr er Denis an, der schon aussteigen wollte.
„Wieso, kommt dir was verdächtig vor?“
„Wenn du dir wegen jemand die Hände schmutzig machst, musst du dir nicht auch noch die Schuhe einsauen. Dafür bezahlt er dich nicht.“
„Stimmt.“ Denis ließ den Türgriff los und ließ sich gemütlich in den Sitz zurücksinken. „Wir haben unsern Job gemacht, jetzt ist er dran.“
„Bleibt nur zu hoffen, dass er das genauso sieht.“
„Glaubst du, der will uns verarschen?“
Milan schaute durch die pendelnden Scheibenwischer gedankenverloren zu dem Geländewagen. Falls Mister Monny sie verarschen wollte, hätte er das garantiert irgendwie eingefädelt gekriegt. Er sah zwar aus wie ein Riesenbaby, aber er war clever und hatte Erfahrung. Milan wusste nicht, für wen er arbeitete, aber er ging davon aus, dass es eher irgendein Schwergewicht war. Davon zeugte nicht nur das zur Schau gestellte Selbstbewusstsein, sondern vor allem auch die Belohnung, die er ihnen, ohne mit der Wimper zu zucken, angeboten hatte. So viel Großzügigkeit warf eine Menge Fragen auf. Die einzige und aus Milans Sicht einzig wichtige lautete: Hat er überhaupt vor zu zahlen? Ein Drittel hatten sie als Vorschuss bekommen, gleich nachdem sie sich einig geworden waren, jetzt sollten sie den Rest einstreichen.
„Ich würd dem jedenfalls nicht empfehlen, dass er mich austrickst“, murmelte Denis. „Das könnt ’n böses Ende nehmen.“
Milan kannte Denis’ Reizbarkeit und seine Brutalität schon seit seiner Zeit als Gefängnisaufseher, kurz nachdem er bei ihm in der Abteilung gelandet war. Als er zum ersten Mal Zeuge eines Vorfalls wurde, aus dem Denis trotz seines Größenhandicaps siegreich hervorgegangen war, wurde ihm klar, dass in diesem Gnom was steckte. Mit so ’nem Schrank, wie Szegedin einer war, zu Rande zu kommen, war eine respektable Leistung. Von da an achtete Milan ein bisschen mehr auf Denis. Schnell hatte er kapiert, dass das Geheimnis von seinem Erfolg gar nicht so sehr in seiner Muskulatur lag, sondern dass er gewaltig mit Wut aufgeladen war. Das Schicksal hatte ihn stiefmütterlich behandelt – außer mit einer schmachvollen Körpergröße war er auch noch mit einer Hasenscharte gesegnet (seine deformierte Oberlippe ließ an weibliche Genitalien denken, sodass er im Gefängnis von allen „Pussy“ genannt wurde) – und die einzige Möglichkeit, sich gegen die ganzen Ratten zur Wehr zu setzen, die auf der Welt rumrannten, hatte Denis in einem vorbehaltlosen Egoismus gefunden. Mit niemand machte er Kompromisse, vor niemand einen Rückzieher, auf niemand verließ er sich. Auch bei dem Pakt jetzt, zu dem er seinen ehemaligen Wächter dazugeholt hatte, ging’s nur darum, was am Ende dabei rauskam. Sobald sie das Geld kassiert hätten, würden sich ihre Wege trennen.
„Guck mal, was der macht!“ Denis beugte sich aufgeregt nach vorn und schaute durch die nasse Scheibe Richtung Wäldchen. Mister Monnys Auto, das ganz am Rand stand, setzte unvermittelt tiefer zwischen die Bäume zurück. „Fahr hinterher!“
Milan hatte nicht die geringste Lust, das offene Gelände zu verlassen und in den finsteren Wald reinzufahren.
„Mann, jetzt scheiß dir nicht ins Hemd.“
„Willst du, dass der abhaut?“
„Wenn der vorgehabt hätte